… eine Stunde im Wald, ungerührte Luft, das erhabene Ragen der schlanken, sehr hoch gewachsenen Bäume, kaum ein Laut und − kein einziger Mitmensch, kein Zeitgenosse, auch kein Ausserirdischer und kein schattenhafter Verfolger, der mir dazwischenkommt.
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Der Flug der Eintagsfliege, des Kohlweisslings, der Lerche ist seit langem in Wort und Bild und Formel festgehalten − modelliert; der Flug dieser Fliege da, dieses kleinen Schmetterlings, jener sich hochschwingenden Lerche bleibt unbeschrieben, ist unbeschreiblich.
Anders die Astronomie, die die Himmelsmechanik nicht nur in Zahlen wiederzugeben, sondern auch auf Jahrhunderte, Jahrtausende hinaus Kometen, Sonnen- oder Mondfinsternisse vorherzusagen vermag.
Kosmische Konstellationen und Prozesse in Vergangenheit und Zukunft zu vergegenwärtigen ist offenkundig einfacher, als den aktuellen Torkelflug oder das Gesirr eines Insekts in Begriffen, Zahlen, Formeln festzuhalten.
Keine Physik, auch nicht die mathematische, erfasst den Einzelfall hier und jetzt. Von daher die Erhabenheit des Gemeinen, das in seiner jeweiligen (jedesmaligen) Einzigartigkeit sich als ein Ungemeines zu erkennen gibt.
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Die Sprache, gedacht als Gesamtbestand des Wörterbuchs, wird der sogenannten Wirklichkeit bestenfalls annähernd gerecht, vermag sie jedenfalls ohne Verlust nicht zu erfassen. Das Wörterbuch bietet dazu in keiner Sprache hinreichend viele Begriffe. Man denke an die Farbadjektive, die Bewegungsverben, die Gattungs- und Eigennamen.
Doch was an Präzision und Vollständigkeit verloren geht, wird kompensiert, wird gar zusätzlich gewonnen durch Metaphernbildung. Die Konstruktion von bildhaften oder akustischen und andern Vergleichen für fehlende Begriffe mag höchst kunstvoll sein, sie ist aber bloss eine Hilfskonstruktion, bleibt ein notwendiges Übel.
Bemerkenswert aber doch, dass durch mangelnde Präzision, bedingt durch die Übertragung (Metaphorisierung), eine Genauigkeit erreicht werden kann, die als sinnliche Erkenntnis beziehungsweise als ästhetische Wahrnehmung der rationalen Begrifflichkeit durchaus adäquat ist.
Gegenüber strenger Begrifflichkeit ist die Metapher ein Dreckeffekt und als solcher − unentbehrlich für jede sprachliche Kommunikationsform.
So wie für den Bau- oder Maschineningenieur die präzisen Vorgaben der Mathematik durch bewusst fehlerhafte Anwendung (Missachtung oder Verfälschung von Gleichungen) verunreinigt werden müssen, um für die Praxis überhaupt tauglich zu sein.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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