Aus dem archivalischen Fundus der Kulturtage von Lana schickt mir Oswald Egger die kurze Grussadresse, die Stéphane Mallarmé im Januar 1886 vor seiner Wahl zum „Dichterfürsten“ Frankreichs an seine Schriftstellerkollegen − Verehrer wie Verächter − gerichtet hat. Den im Plakatformat gedruckten, in Redaktionen und Verlagen sowie an der Fassade des Odeon-Theaters öffentlich ausgehängten Text hatte ich, in Form eines Handzettels, für die Besucher der Kulturtage versuchsweise ins Deutsche gebracht, ihn dann aber, wie fast alles von mir Verfasste, schon bald wieder vergessen; hier folgt, dem Original eng angelehnt und dennoch einiges ihm schuldig bleibend, der Wortlaut:
Dichter!
Auf einen Wink wird Gestalt, verwandelt sich, zur Stunde, da − materielles Ansehn, ach, geschwunden! − in reines Licht das menschliche Phantom, einstmals hochgehoben auf den Schild des Aoidos, berufen als solcher zu fortan geforderter Präsenz, muß Vorrang haben an Respekt und Bewunderung, seine Stirn bekränzt mit einmütigen Siegespalmen.
Mag sein, einmal verdrängt das Entsetzen vorm Auftritt, die Vergangenheit − die meine −, Dichter reich an der Wenigkeit von Erntejahren, bewegt mich dazu, unterm dumpfen Blech der Dämmernis und der keuschen Helle eurer Morgenröte, zu erstehn, um endlich solch Ehrengehalt zu empfangen.
Hier nun will ich, weiter nichts, erbitten bei denen, die dazu berufen sind, weil würdig, es zu verleihn, eine Abstimmung.
Dichter!
Teuer, mein Wunsch, es möge leben durch euch ein Name,
der Meine, gewinnt Ausdruck so.
Stéphane Mallarmé Januar 1896
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Da ich den denkwürdigen strophischen Aufruf nun, unversehens, wieder unter der Hand habe, stellen sich mir diverse Fragen, die ich damals, vor gut zwanzig Jahren, noch nicht adäquat bedacht hatte. Wie kommt ein, nach eigenem Bekunden, „dunkler“ Dichter, der sich dem Literaturbetrieb konsequent verweigert, dazu, sich um einen „Fürsten“-Titel zu bewerben, mithin um eine Position, eine Funktion, die seinem hermetischen Dichtertum ganz und gar äusserlich ist? Wie kann er, der elitäre Meister, sich einem „demokratischen“ Wahlverfahren unterstellen? Und was bewegt ihn dazu, seine offizielle Bewerbung in einem Text bekanntzugeben, dem jeder Appellcharakter abgeht, der vielmehr darauf angelegt zu sein scheint, durch Unverständlichkeit zu provozieren und dadurch seine Zweckbestimmung zu unterlaufen?
Dass Mallarmé tatsächlich als „Dichterfürst“ gewählt und inthronisiert wurde, trägt zur Klärung dieser Fragen nichts bei, im Gegenteil, es macht ihre Beantwortung noch problematischer. Ich selbst bin jedenfalls um eine bündige Antwort verlegen, gehe aber davon aus, dass Mallarmé, der sich ja, in all seiner feierlichen Bescheidenheit, schon längst (und vollends nach Verlaines Tod) als „Dichterfürst“ der Franzosen fühlen durfte, auf den Wahlgang in keiner Weise angewiesen war und weder durch Erfolg noch durch Misserfolg diskreditiert werden konnte.
Also unterzog er sich mit ironischem Rückschritt, wie ich vermute, dem obsoleten Verfahren, ohne dabei den geringsten Kompromiss einzugehen – seine Bewerbung ist in Wirklichkeit ein Gedicht, ist ein Text, der jeglicher Werbung Hohn spricht und sich auch sonstiger Nutzanwendung strikt verweigert, abgesehen davon, dass Mallarmé, selbst in diesen wenigen Zeilen, all seine Zeitgenossen an Kunstfertigkeit und abgründigem Sarkasmus übertrifft, auch jene, die damals weit bekannter waren als er.
Wer nennt und liest heute noch Autoren – einstmalige Tagesgrössen − wie Kahn, Régnier, Moréas, Vielé-Griffin oder Prudhomme? Stéphane Mallarmé, „der Dunkle“, ist geblieben, mit oder ohne Fürstentitel, trotz oder wegen seiner angeblichen Unverständlichkeit – seine Dunkelheit ist Voraussetzung und Garant dafür, dass der Text nicht voreilig verstanden und damit ausgeschöpft wird, dass er vielmehr eine Evokationskraft gewinnt, die den Leser zu eigener Sinnbildung anregt und ihn zugleich vom Zwang des Verstehens befreit.
Mit der weitgehenden Eliminierung der Bedeutungsebene im Gedicht, die ja einer impliziten Kommunikationsverweigerung zwischen Autor und Leserschaft gleichkommt, kontrastiert bei Mallarmé die strenge Einhaltung überlieferter formaler Kriterien beim Vers- und Strophenbau – seine dichterische Rede ist von geradezu klassischer Perfektion und lässt von der „Formzertrümmerung“ der aufrückenden Modernisten noch nichts erkennen: Auch wo er Unverständlichkeit durchsetzt, bleibt Mallarmé der überragende Meister (und als solcher auch der Vollender) der althergebrachten französischen Prosodie, deren Formstrenge er – etwa im Bereich des Endreims – eigens noch forciert.
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Ob mit oder ohne Titel – Dichterfürsten gibt es längst keine mehr, schon gar nicht solche von Mallarmés Rang, aber es gibt auch niemanden mehr, der einen derartigen Titel überhaupt anstrebt. Heutige Autoren wollen (und sollen) nicht fürstlich sein, sondern – Top, Hip, In. Literarischer Erfolg bleibt, als ebenso eklatanter wie hinfälliger „Rang“, den Stars, den Abräumern und Überfliegern vorbehalten. Wer es hingegen dem Publikum und der Kritik auf thematischer wie auf formaler Ebene „nicht leicht“ oder gar „schwer“ macht, fällt ausser Betracht, kann bestenfalls als „Geheimtipp“ gelten.
Doch „Geheimtipps“ werden nicht ausgezeichnet − noch nie hat ein Nobody einen der grossen Literaturpreise zugesprochen erhalten, was auf die schlichte Tatsache zurückzuführen ist, dass man nicht die Texte, sondern die Autoren herausstellt. Diese falsche Prämisse stand schon hinter dem antiquierten Konzept des „Dichterfürsten“. Stéphane Mallarmé dürfte einer der ganz Wenigen (und wohl der Letzte überhaupt) gewesen sein, dem es gelungen ist, in und mit seinem Werk vieldeutige Dunkelheit gegen eindeutige Verständlichkeit durchzusetzen und dafür auch noch geadelt zu werden. Indem er sich als Autor selbst entmächtigte, um die „Initiative den Wörtern“, die Dichtung dem Eigensinn und Eigentrieb der Sprache zu überlassen, hat er überzeugend dargetan, dass auch ein „Niemand“ als „Dichterfürst“ tauglich sein kann.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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