Heiner Müller zwischen Nachdenklichkeit und Ideenkampf
Als ich Heiner Müller bei einem längeren Aufenthalt in Berlin 1991/1992 erstmals begegnete, kannte ich von ihm ausser einem bibliophilen Bogendruck − es handelte sich um seine Übersetzung von Wladimir Majakowskijs Tragödie, die 1985 bei Katharina Wagenbach erschienen war − keine einzige Publikation, hatte auch nie ein Stück von ihm auf der Bühne gesehen.
Müllers klassenkämpferische Themen und Attitüden hatten mich nie interessieren, geschweige denn überzeugen können, und seine herrische Haltung als engagierter DDR-Autor und zynischer Verächter des kapitalistischen Westens war mir nicht nur verdächtig, sie hielt mich auch davon ab, mich mit seinem literarischen Werk zu beschäftigen.
Mein persönlicher Eindruck von ihm bestärkte mich in dieser − voreingenommenen − Ablehnung. Es war Antipathie auf den ersten Blick, ein kaum kontrollierbares, spontan aufkommendes Gefühl des Abgestossen- und Ausgeschlossenseins. Mir schräg gegenüber sass (im Foyer des damaligen Schiller-Theaters) ein kleiner zart gebauter Mann mit der souveränen Allüre eines Grossinquisitors oder Grosskapitalisten (der genau so gut eine graue kommunistische Eminenz hätte sein können), entspannt zurückgelehnt in seinem Sessel, eine dicke Zigarre (und deren Rauchschwaden) vorm Gesicht haltend, die Augen von massiven Brillengläsern zu winzigen Löchern verengt (die ich als starr und hell in Erinnerung habe), den blassen dünnlippigen Mund spöttisch verkniffen, die hohe Stirn bedächtig mal dahin, mal dorthin wendend, während er scheinbar unbeteiligt, wie eine Bauchrednerpuppe, mit kaum vernehmlicher Stimme seine ungefragten Kommentare über Gott und die Welt von sich gab. Man kniete vor ihm; er schien’s zu geniessen.
Als ich ihm zu Majakowskijs Tragödie (die ich selbst ebenfalls übersetzt hatte) beiläufig die eine oder andre Frage stellte, zeigte er sich völlig desinteressiert, sagte nur: „Ach, ja, das Übersetzen …“ − Akzent auf der ersten Wortsilbe − „… das ist so eine Sache.“ − Das Bild, das ich von Müller hatte, wurde bei diesem flüchtigen Zusammentreffen bestätigt und verfestigte sich zu einer ambivalenten Karikatur, die mich nochmals für viele Jahre daran hinderte, ihn als Autor ernstzunehmen, ihn also ernsthaft zu lesen.
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Dazu kam es nun jedoch, rein zufällig, als ich unlängst in einer Wühlkiste bei der Zürcher Buchhandlung Klio nah dem Centralplatz auf einen schmalen Band mit dem Titel Ende der Handschrift stiess, der mich sofort ansprach, da ich grade an einem Essay zu eben diesem Thema arbeitete: „Ende der Handschrift?“ Mit Fragezeichen.
Dass es sich bei dem neuwertigen, noch in Sichtfolie eingeschlagenen Büchlein um ein Werk des Schriftstellers Heiner Müller handelte, realisierte ich erst, als ich es mir in der Strassenbahn genauer ansah und feststellte, dass ich eine Gedichtauswahl aus seinen letzten Lebensjahren unter der Hand hatte und also nicht einen einschlägigen Prosatext. Ich war zunächst einigermassen enttäuscht, begann aber doch zu blättern, dann mit zunehmender Aufmerksamkeit auch hineinzulesen, und rasch wurde mir klar − Gewissheit aus Intuition und Erfahrung! − : Das war grosse Poesie.
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Das ist grosse Poesie, die ohne grosse Worte auskommt, ohne aufwendige Instrumentierung, ohne ideologischen Anspruch, ohne jede Stimmungsmache. Vergleichbares kenne ich nur von Beckett, von Jandl. Dies hier sind Gedichte vorwiegend aus den frühen 1990er Jahren, letzte Gedichte vorm Tod des Autors, intime, unverstellt persönliche Gedichte, vom Sterben schon mitgezeichnet, Gedichte, die den Tod bereits hinter sich zu haben scheinen − vorzeitig postume Gedichte.
Dass Müller bei ihrer Abfassung den unabwendbaren Tod nicht nur vor Augen hatte, sondern mit ihm auch im Reinen war, für ihn bereitstand, erleichterte ihm wohl das Abrücken von ideologischen Vorgaben und Vorurteilen, änderte aber nichts an seinem wachen Interesse für die politische Aktualität, für wirtschaftliche und soziale Probleme, für Grundfragen der Philosophie und Geschichte, es verhalf ihm allerdings zu erhöhter sinnlicher Wahrnehmung der Gegenstands- und Alltagswelt wie auch der eigenen Leiblichkeit.
Deutlich erkennbar ist in diesen späten (zu Lebzeiten nicht veröffentlichten) Dichtwerken die Annäherung Heiner Müllers an den unversicherbaren Glaubensbereich des Religiösen, den er mit biblischen Assoziationen einzuholen versucht, wenn er den Tod − seinen unmittelbar drohenden Tod − im Gedicht (12.12.1995) gewissermassen vorkostet:
ICH KAUE DIE KRANKENKOST DER TOD
Schmeckt durch
Nach der letzten
Endoskopie in den Augen der Ärzte
War mein Grab offen Beinahe rührte mich
Die Trauer der Experten und beinahe
War ich stolz auf meinen unbesiegten
Tumor
Einen Augenblick lang Fleisch
Von meinem Fleisch
Dass der tödliche Tumor keineswegs nur ein unerwünschter Eindringling ist, vielmehr ein „unbesiegter“ Teil des eigenen Leibs − das erbringt, als letzte Einsicht, dieses sonst sehr prosaische, bruchstückhafte, bewusst kunstlose Gedicht. − Weit kunstvoller, dabei ebenso anrührend und bedenkenswert ist der nachfolgende titellose Text, durchweg variabel gereimt, ohne jede Interpunktion, Zeile für Zeile mit einem Grossbuchstaben beginnend, so als müsste der Autor − auch hier in der Rolle des lyrischen Ich − jedesmal neu Luft holen:
Vor meiner Schreibmaschine dein Gesicht
Dein Auge das mich fragt Was willst du sagen
Gegen die Welt Wie kannst du sie ertragen
Was willst du tun dass sie zusammenbricht
Ich sitze krumm an meiner Schreibmaschine
Es geht auf Mitternacht und nebenan
Schläft unsre Tochter Braucht sie was ich kann
(Oder) ist es ihr Tod den ich bediene
Dein Auge hält mich fest in deinem Blick
Hör ich mich sagen dass mein Leben lohnt
Auf dieser Welt nicht nur von uns bewohnt
Mit deinen Augen sieht mein Kind mich an
Wie lange bleibt es von der Welt verschont
Wenn ich die Frau bin und du bist kein Mann
Heiner Müllers literarische Zeit-, Gesellschafts- und Ideenkritik, die vormals angelegt war auf die Veränderung und Erneuerung der Gegenwartswelt unter marxistischem Vorzeichen, mutiert hier im gänzlich unerwarteten, zunächst idyllisch wirkenden Setting einer Kleinfamilie − Vater, Mutter, Kind − zu einem nachdenklichen Abgesang, der jede Umwälzungsambition hinter sich lässt, um statt dessen den vorurteilslosen Blick auf den privaten Status quo zu richten und, davon ausgehend, ein Lebensfazit zu ziehen (Vater), das womöglich, auf die eine oder andere Weise, auch für die Zukunft (Kind) von Bedeutung sein kann, sei’s bloss dadurch, dass die heranwachsende Tochter irgendetwas von dem brauchen kann, was ihr Vater erreicht oder wenigstens auf den Weg gebracht hat.
Dadurch, dass Müller seine Frau, die hier als junge Mutter figuriert, auf subtile Art in sein Fazit einbezieht („dein Auge hält mich“), wandelt sich das Abschiedsgedicht zu einem Liebesgedicht von überwältigender Schlichtheit und Überzeugungskraft („in deinem Blick hör ich mich sagen dass mein Leben lohnt“). Die beiden letzten Verse sind Offenbarung und Geheimnis zugleich: „Mit deinen Augen sieht mein Kind mich an | Wie lange bleibt es von der Welt verschont | Wenn ich die Frau bin und du bist kein Mann“.
Nur selten − und meist beiläufig − erreicht Poesie solchen Stärkegrad. Der einst zynische Klassenkämpfer und Politliterat findet in diesem wie in andern Gedichten, vom Tod bloss noch durch seine Schreibmaschine getrennt, zu einem völlig neuen Ton, der jede Behauptung oder Forderung ausschliesst. „Was willst du sagen | Gegen die Welt“, fragt er sich selbst: „Wie kannst du sie ertragen | Was willst du tun dass sie zusammenbricht“. Angesichts des Todes hilft kein „Nein“, und es erübrigt sich jedes Weltveränderungspathos. Heiner Müllers leiser, dabei kraftvoller dichterischer Schlussakkord lässt erstmals in seinem Werk ein wenig Trost aufkommen, Zärtlichkeit sogar.
(Inzwischen habe ich, nachholend, Müllers Prosa und einige Stücke gelesen, sehe nichts, was seinen späten Gedichten auch nur annähernd gleichkäme, ihnen gerecht würde.)
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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