Immer wieder das Problem, die Frage: Wie sag ich’s dem Freund, dem Kollegen, dass ich an seinem Werk − an diesem oder jenem Text − weder Interesse noch Gefallen finde, deswegen auch nichts damit anfangen kann? Nur selten gelingt’s (eigentlich nie), Person und Autor auseinanderzuhalten, jene nicht an diesem zu messen, beide auch nicht zu vergleichen.
Ich selbst fühle mich keineswegs betroffen, wenn jemand aus meiner Umgebung kritisiert, ablehnt oder einfach nicht mag, was ich da und dort veröffentlicht habe. Warum denn auch! Was ich schreibe, das bin ich ja nicht selbst, und was ich geschrieben habe, das habe ich nicht.
So weit, so klar. Doch kaum jemand macht den Unterschied.
Kritik am Text wird gemeinhin als persönliche Beleidigung und nicht als sachliche Einwendung registriert. Die Selbstidentifikation des Autors mit dem Corpus seines Werks ist vielfach belegt durch Bekenntnisse wie „das Schreiben ist lebensnotwendig für mich“, „dem Schreiben ist bei mir alles untergeordnet“, „wer mich am Schreiben hindert, bringt mich um“ oder auch, als ganz und gar ironiefreie Ansage, „für meine Literatur geh ich über Leichen“; usf.
Auch der kommune Sprachgebrauch bestätigt die leibhaftige Präsenz des Schriftstellers im Text, lässt er es doch zu, einen Autor, eine Autorin zu lesen und sie damit zum direkten Objekt zu machen: Aber wen oder was hat man gelesen, wenn man „Kafka“, „Leiris“, „Mahen“ gelesen hat? Und liest man tatsächlich „Mann“ (und welchen Mann?), wenn man Professor Unrat liest oder Die Bekenntnisse des Felix Krull?
Die spontane, dennoch geradezu zwanghafte Gleichstellung von Werkautor und Privatperson geht vermutlich auf die uralthergebrachte Sehnsucht zurück, sich ohne sprachliche (und damit notwendigerweise verfälschte, notwendigerweise unvollständige) Vermittlung zur Gänze auszudrücken, in dem apophatischen Grundverständnis, kraft des Schweigens selbstredend zu sein.
Autorschaft würde sich damit erübrigen, wäre auf Sprache und vollends auf Text nicht mehr angewiesen: Der Mensch selbst würde zum sprachlosen Bedeutungsträger und könnte sich als leibhaftiges Sprachwerk ohne Worte behaupten. Paradiesische Vorstellung! Rezent noch heute?
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Aber gestern! − In Hans Blumenbergs Nachlass findet sich der Entwurf zu einem „noch zu schreibenden Brief“, dessen Adressat lediglich mit den Initialen „E. R.“ bezeichnet ist, bei dem es sich aber, wie dem Entwurf zu entnehmen ist, um einen akademischen Lehrer und späteren Lebensfreund des Autors handelt.
Was E. R. unterm Nationalsozialismus „alles getan hat“, scheint Blumenberg auf entsprechende Rückfragen erfahren zu haben. Wenn er hinzufügt, dass er mit ihm „trotzdem bis zu seinem Tode befreundet geblieben“ sei, verweist dies implizit auf ein schuldhaftes oder zumindest unehrenhaftes Verhalten E. R’s im Dritten Reich. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen den Kollegen hat darunter offenbar in keiner Weise gelitten. Blumenberg erklärt dazu ebenso knapp wie pathetisch: „Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht.“ Dies scheint er sich auch in andern, vergleichbaren Fällen vorgenommen zu haben.
In Sachen „Moral“ gilt es als common sense, dass der Freund oder Verwandte mehr Zuwendung, mehr Schutz, mehr Förderung, mehr Treue beanspruchen darf als ein beliebiger, gar ein gegnerischer Zeitgenosse. Ist aber dem Freund, dem Verwandten nicht auch mehr Wahrheit beziehungsweise die ganze Wahrheit zuzumuten? Die ganze Wahrheit, die bekanntlich nie nicht nackt ist und oftmals hässlich.
Im hier skizzierten Fall zeigt sich eine bemerkenswerte Ungleichheit: E. R. hat seine Verfehlungen gegenüber Blumenberg eingestanden; dieser hat sie mit grosser Diskretion zur Kenntnis genommen und für sich behalten. Hätte er … hat er diesen Dienst am Freund auch gegenüber einem Feind oder einem Beliebigen erbracht, wie die normative Ethik es fordert?
Die Dringlichkeit solcher Nachfrage wird bestätigt durch die jüngsten Recherchen zur Gründungsgeschichte des Konstanzer Gelehrtenkreises „Poetik und Hermeneutik“, dem Hans Blumenberg als prominentes Mitglied während vieler Jahre produktiv verbunden war. Zu eben diesem Kreis gehörte bekanntlich auch Hans Robert Jauss, Romanist, Mediävist und einflussreicher Wortführer der sogenannten Rezeptionsästhetik, der als junger Wehrmachtoffizier und NS-Sympathisant nachweislich in Verbrechen gegen die Menschlichkeit involviert war, eine Tatsache, die manchen seiner Kollegen, sicherlich auch Blumenberg, bekannt gewesen sein dürfte.*
Dennoch hat es Jahrzehnte gedauert, bis der „Fall Jauss“ endlich öffentlich gemacht und zuletzt unter politischem Druck aufgearbeitet wurde, ganz abgesehen davon, dass sich eine Vielzahl von ehemaligen NS-Sympathisanten nach dem Krieg sofort wieder im akademischen Betrieb − und eben auch im Kreis von „Poetik und Hermeneutik“ − installiert haben, ohne jemals Selbstkritik am eigenen schuldhaften, zumindest fehlbaren Verhalten geübt zu haben. In stillschweigender Übereinkunft haben sich jene Freunde und Kollegen wechselseitig Absolution erteilt, um Rückfragen nach ihren Verstrickungen und Verfehlungen zu vermeiden.
Aber kann … aber darf Freundschaft den Zumutungen der Wahrheit sich entziehen? Und weshalb … und wozu sollte der Freund durch falsches Lob geschont, der Feind durch tendenziöse Kritik beschädigt werden? Gleichwohl ist dieses wie jenes noch heute gleichermassen üblich, kann mithin offenkundig als akzeptiert gelten.
Einem Freund die Wahrheit zuzumuten, ist sicherlich etwas anderes als ihn dem „Weltgericht“ auszuliefern. Hans Blumenberg, der grosse Metaphorologe, überspannt hier den Vergleich ex negativo zu seinen eigenen Gunsten. Jeder, so heisst’s doch, sei sich selbst der beste Freund, und nur über die Toten sei nichts Schlechtes gesagt.
[* Ich selbst bin dem späten Hans Robert Jauss ein paarmal am Rand seiner Konstanzer Kollegien begegnet. Ohne von seiner militärischen und politischen Vergangenheit zu wissen, fiel mir im Gespräch mit ihm seine Vorliebe für kriegerische Metaphorik auf. Mehr als einmal riet er mir, in universitären Debatten stets „vorab schon eine Panzereinheit auffahren zu lassen“ und diese, „ohne Angst und Bedenken vor Verlusten“, konsequent einzusetzen, um allfällige Angriffe gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ein militanter Schöngeist!]
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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