Nochmals bei Lichtenberg
Insgesamt fünfeinhalbtausend Eintragungen finden sich in den sogenannten Sudelheften, die Georg Christoph Lichtenberg − Physiker, Philosoph und Literat in Göttingen − zwischen 1764 und 1799 vollgeschrieben hat. Postum sind die meist beiläufigen, eher fahrig formulierten Aufzeichnungen pauschal als „Aphorismen“ geadelt und schon bald als Lichtenbergs Hauptwerk ausgewiesen worden; und mehr als das: Man feierte und feiert den Autor als Schöpfer der deutschen Aphoristik − mit dieser Textsorte bleibt sein Name verbunden, auf Grund der „Aphorismen“ ist er als Klassiker in den Kanon eingegangen, obwohl er eine Vielzahl andrer, ebenso starker Schriften hinterlassen hat.
Bekommt man, auf rund eintausend Druckseiten, all die sogenannten Aphorismen in chronologischer Abfolge (und also nicht nach Themen gruppiert) zu Gesicht, erkennt man rasch, dass Aphorismen − im gattungspoetischen Verständnis − bei Lichtenberg eine eher untergeordnete Rolle spielen; dass demgegenüber spontane Anmerkungen zum zeitgenössischen Literatur- und Wissenschaftsbetrieb oder auch zur eigenen Befindlichkeit deutlich überwiegen, eingeschlossen polemische Interjektionen ad personam oder generell gegen die Vertreter gewisser Berufe, Konfessionen und, nicht selten, des weiblichen Geschlechts wie auch − eher unerwartet bei einem „aufgeklärten“ Denker von Lichtenbergs Rang − der jüdischen Rasse. Dazu kommen Witze, Kalauer, Paradoxien aller Art.
Weitgehend unbeachtet sind anderseits jene Lichtenbergschen Notate geblieben, deren Zweck und Sinn dahinstehen, weil man sie auf keinen eruierbaren Gegenstand, auch keinen eruierbaren Adressaten beziehen kann − sie stehen einfach da, schwarz auf weiss, und sprechen, da sie keine nachvollziehbare Bedeutung freigeben, gewissermassen für sich selbst.
Es handelt sich dabei um mehrheitlich sehr kurze, bisweilen abstrus, aber doch auch poetisch wirkende Texte, die rein formal durchaus mit Aphorismen zu vergleichen wären, nur dass ihnen die notwendige aphoristische Schärfe − die Pointe − und damit die wesentliche Qualität des Genres abgeht, nämlich unmittelbar einzuleuchten und zu erhellen.
Hier ein paar Beispiele für diese besondere Art von „Sudelsätzen“, die man nicht verstehen, über die man sich bloss wundern, ärgern, amüsieren kann und die in den vielen populären Auswahlbänden von Lichtenbergs Aphorismen nicht zu finden sind:
„Beym Unterricht in der Geographie, einen König von Portugal zu ernennen pp gehört mit zum Verschencken der Fixsterne.“ − „Es kostete den Kerl Mühe dieses Paar Tage über die Etikette nicht zu stehlen mit zu machen.“ − „Bajonetten-Ruh ein Lustschloss.“ − „Er trieb einen kleinen Finsterniss-Handel.“ − „Die mit Garnerin aufgestiegene Dame hiess Henry Celestine.“ − „Das Verschencken der Fixsterne ist ein Hauptzug.“ − „Republikettchen, oder eine ecclesiola unter der Erde.“ − „Ҫa ira, Ca-ira, Kahira Cairo.“ − „Bis zum Pesseräh und Buschmann.“ − „Ein schwartzer qu’on touche.“ − „Die Combabische Art zu überführen.“ − „Wenn man eine Kröte darauf bindet oder es von einem Printzen angreifen lässt.“ − „Den Buckel mit birkenem Pinsel blau bemalen.“ − Usf.
Bleibt anzumerken, dass der Nonsense solcher und ähnlicher Notate keineswegs von Lichtenberg beabsichtigt war, sei’s zur Verulkung, sei’s zur Belustigung seines Publikums; für ihn selbst, der den jeweils gegebenen Kontext natürlich kannte, dürften all diese Stenogramme, als Gedankenstütze, ebenso klar wie nützlich gewesen sein.
Nur für uns Uneingeweihte mutiert das Banale zum Wundersamen und rührt das vermeintlich Unsinnige ans Poetische.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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