Wieder bei Kleist. Ich war 19, als ich erstmals das Gesamtwerk durchnahm. Den Dünndruckband der Tempel Klassiker hatte ich mir im deutschen Grenzort Lörrach besorgt. Ich habe die Ausgabe heute nicht mehr zur Hand, greife auf die viel ältere Edition von Bong & Co. zurück, Kleindruck in Fraktur, mühsam zu lesen und … aber der Zwang zur Langsamkeit erhöht naturgemäss die Intensität der Lektüre. Einzig so allerdings kann sich Kleists umständliches, dabei höchst präzises Denken und kann sich auch die ingeniöse, mit sturem Stilwillen hochgehaltene Architektur seiner Sätze, seiner Texte erschliessen.
Über das Marionettentheater, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, Von der Überlegung, dazu die Anekdoten, die Erzählungen (Das Erdbeben von Chili, Der Findling, Die Marquise von O…) – ich lese all diese Texte mit unvermindertem Interesse und fortdauerndem Respekt. Die qualvoll vorgeführte – vorgetäuschte – Heiterkeit; die grüblerische und doch so luzide Intelligenz; diese unheimliche, immer wieder von den Rändern her einbrechende, jede Normalität verschattende Imagination: Das erbringt ein dichterisches Weltbild von labyrinthischer Enge und Finsternis, ausweglos und durch keinen Glauben, durch kein Ideal aufzuhellen.
Die fast schon kriminalistische Insistenz, mit der Kleist die Scheinhaftigkeit der menschlichen Lebenswelt auslotet und deren Lügenhaftigkeit, Illusionismus, Täuschungscharakter, Traumseligkeit, Aberglauben entlarvt, hat nichts von ihrer Aktualität und Notwendigkeit verloren; im Gegenteil, sie passt genau in die heutige Zeit, die sich (unter freilich ganz anders gearteten Bedingungen) weiterhin schwertut mit diversen Erscheinungsweisen der Desinformation, die es der Mehrheit der Menschen unmöglich macht, zwischen Wahr und Falsch, Wesentlich und Unwesentlich, Real und Irreal überhaupt noch zu unterscheiden: Kommerzielle Werbung, politische Propaganda, Photoshopästhetik und Fake News aller Art und jeglicher Herkunft erzeugen ebensoviele Ängste wie Illusionen und bringen immer mehr Gewissheiten zum Einsturz.
Wie destruktiv sich dies auch auf grundlegende Werte wie etwa Recht und Gerechtigkeit auswirkt, ist täglich durch beliebig viele Fallbeispiele belegt. Bei Heinrich von Kleist finden sich – gleichsam – die modellhaften Versuchsanordnungen dazu. Wenn in seiner Erzählung vom Findling der Titelheld Nicolo sich in einem gewissen Colino wiederzuerkennen glaubt, bloss weil die beiden Namen anagrammatisch miteinander verbunden und ineinander verschmolzen sind, und wenn sich in der Folge herausstellt, dass Colino, als zärtliche Namensform, sich auf eine Drittperson mit dem Zunamen Collin bezieht, dann wird hier exemplarisch (und auf einfachste Weise) vorgeführt, wie weitgehend das menschliche Zusammenleben von Missverständnissen, Irreführungen, Maskeraden, kurz: von Lug und Trug bestimmt ist; so weitgehend eben, dass selbst der Eigenname (und mit ihm dessen Träger) im Uneigentlichen verschwimmt: Rache mutiert zu Wollust, Sorge zu Verachtung, Scham zu Zynismus, Traum zu Wirklichkeit, Wirklichkeit zum Albtraum, zuletzt gar Ich zu Er, und bald weiss keiner mehr, warum und wozu er tut, was er tut; und wer der Täter, wer das Opfer ist.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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