Monologische Mehrstimmigkeit

Versuchsweise und vordergründig könnte man literarische Autoren klassifizieren nach der Rhetorik ihres Personalstils, danach, ob und inwieweit sie ihre Texte – Texte aller Sorten – monologisch oder mehrstimmig ins Werk setzen.
In sämtlichen Literaturen sämtlicher Epochen lässt sich feststellen, dass es diesbezüglich einzig diese beiden Klassen gibt: Schriftsteller, bei denen alles Geschriebene, unabhängig von der jeweiligen Textsorte, einem einzigen Stilprinzip unterworfen bleibt. Ob Erzählung, Tagebuch, Brief, Gedicht, Aufsatz – stets kommt dasselbe stilistische Register zum Einsatz. Man könnte es auch ex negativo formulieren und sagen, es gebe eben Autoren, die lediglich eine Sprache, eine Sprachebene beherrschten, um ganz unterschiedliche literarische Aufgaben abzuarbeiten.
Zu dieser Klasse (oder Spezies) gehört beispielsweise Stéphane Mallarmé, dessen exzellente Sprachkultur keinen Unterschied macht beziehungsweise zulässt zwischen Gelegenheitsgedicht und Meistergedicht, zwischen Gedicht und Notat; dessen Hunderte von Briefen stilistisch so gut wie ranggleich neben seiner Dichtung stehen; dessen Prosa durchweg wie Poesie instrumentiert ist; von dem zuletzt jeder noch so beiläufige Text sich gleichermassen „vollkommen“ ausweist.
Ganz anders verhält es sich bei Paul Valéry, dem eigenständigsten Zögling Mallarmés. Valéry hält seine Dichtung und seine essayistische Prosa (auch die Korrespondenzen und die Hefte) stilistisch klar getrennt – seine oftmals bombastischen, symbolisch befrachteten Poeme kontrastieren durchweg mit seinem asketischen Prosastil, der gedanklicher Klarheit offenkundigen Vorrang gibt vor volltöniger Rhetorik.
Derartige „Zweisprachigkeit“ praktizierten mit und nach Valéry die meisten Vertreter der klassischen Moderne. Man denke an die spröde, bisweilen sperrige, letztlich stillose Essayistik der Dichterin Anna Achmatowa; an T. S. Eliots schulmeisterliche Aufsätze, die sich geradezu eklatant abheben von seiner innovativen Versdichtung; oder an Samuel Becketts umfangreiches Briefwerk und seine kritische Prosa, die im Vergleich – im Gegensatz − zu seinen literarischen Texten fast durchweg nachlässig formuliert sind und auch inhaltlich nur ganz selten über ihren jeweils aktuellen Gebrauchswert hinausweisen.
Umgekehrt wären Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Marina Zwetajewa, Maurice Blanchot, Edmond Jabès unter jenen Autoren zu nennen, deren Werk im Wesentlichen mit einer einzigen Stimmlage auskommt; bei denen also narrative, poetische, essayistische wie auch private Texte einer monologischen Rhetorik untergeordnet und gleichsam wie ein Text angelegt sind.
Für beide Typen liessen sich noch manche Beispiele anführen. Eine entsprechende Klassifikation dürfte leicht fallen. Bleibt allerdings die Frage, was sie für das bessere Verständnis von Sprache und Literatur wie auch von solcherart neu rubrizierten Autoren und Werken zu erbringen vermöchte.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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