Der alte Lew Tolstoj hat über Kunst und Literatur zwar einigen Nonsense verbreitet, aber in einem behält er Recht: Zum kanonisierten „Klassiker“ avanciert man weniger durch die eigene Leistung als durch die Vielzahl und Vielfalt dessen, was zu dieser Leistung im Lauf der Zeiten geäussert wird.
Mein Beispiel nun James Joyce: Längst hat die Sekundärliteratur den originalen Ulysses ausgeblendet, die Sekundärliteratur wird getoppt durch Tertiär-, durch Quartärliteratur und − aber − wo bleibt der Text? Kaum jemand wird ihn unbefangen lesen können.
Ich habe mir das Buch unlängst wieder vorgenommen, wollte mir im Zusammenhang mit einer entstehenden Arbeit über Shakespeare die berühmten 100 Seiten über Hamlet noch einmal genauer ansehen. Doch die langfädige Theoriebildung, die Joyce durch Stephen vortragen lässt, nur um schliesslich den dänischen Prinzen als fiktionalen Wunschsohn des Autors auszuweisen, wurde mir zur drögen Lektüre. Der Erkenntnisgewinn dieser wortreichen Episode bleibt ebenso gering wie das Amüsement (das ich von früher noch lebhaft in Erinnerung habe), der Wortwitz kommt eher schlapp daher, die obligate Joyce’sche „Leserfolter“ ist hier bloss noch ein müder Kitzel.
Was Schwarz auf Weiss geschrieben steht, ist unwandelbar, doch was und wie man es gelesen hat, kann sich grundlegend ändern; es gibt dafür beliebig viele Variablen. Eine zweite, eine dritte Lektüre kann mir ein Literaturwerk ganz neu vor Augen führen, kann die Leseerfahrung anreichern, kann aber den Leseertrag auch schmälern. Begeisterung, Ernüchterung können wechselseitig ineinander umschlagen.
Ich vermute, dass es, um als Klassiker rubriziert und gerechtfertigt zu werden, mehr (und zugleich weniger) braucht als höchste literarische Qualität. Mehr als auf die Werke selbst kommt es dabei auf deren produktive Rezeption, deren Vorbildcharakter, deren Einflusspotenz an.
Ulysses ist keineswegs ein in jeder Hinsicht gelungenes Meisterstück, ist aber ein prägnantes Zeitgeistphänomen, in dem der Epochenstil exemplarisch „zum Ausdruck“ kommt. Das gilt meines Erachtens ebenso für Andrej Belyjs Prosa und Chlebnikows Poesie, die in unzähligen Abhandlungen ein für allemal als epochal beglaubigt worden sind und weiterhin als unantastbare Mustertexte der Moderne hochgehalten werden. Nehme ich mir diese Texte heute (nachdem ich einst ebenfalls zu deren Belobigung beigetragen habe) erneut vor, kann ich sie wohl weiterhin interessant finden, nicht aber gleichbleibend bedeutsam, nachhaltig und anregend wie, zum Beispiel, die von Kafka, Artaud, Platonow, Faulkner, Bruno Schulz.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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