Schall und Rauch

Worte des Predigers

Von allen biblischen Büchern ist mir der Kohelet (auch Ekklesiast, Prediger, Versammler) am wichtigsten − der desolateste aller kanonisierten Texte, illusionslos, ohne den Trost, die Hoffnung, die Rettung gar, die das gleichermassen desolate Buch Hiob am Ende immerhin zu bieten hat. Allerdings ist Hiob ein Einzel- und Sonderfall menschlicher Geworfenheit, der sich kaum verallgemeinern lässt, während der königliche Autor Salomo, dem man den Koholet zuschreibt, durchweg die Geworfenheit der Menschheit beziehungsweise des Menschen schlechthin − zum Thema macht und keinerlei Erlösung in Aussicht stellt.
Insgesamt achtunddreissig Mal evoziert der Prediger in seiner poetischen Unheilslehre die Nullität des menschlichen Daseins und setzt sie metaphorisch mit dem Wind ineins. Verwendet wird dafür der mehrdeutige hebräische Begriff („hevel“), der konkret für „Hauch“, „Dampf“, „Atem“ stehen kann, aber auch, in übertragener Bedeutung, für „Wahn“, „Idolatrie“ und „das Nichts“. Dementsprechend lautet der Auftakt zu Salomos Abgesang auf das irdische Dasein (nach der katholischen Einheitsbibel):
„Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“
Oder in sinngemäss interpretierender Fassung (nach dem Wortlaut der Mengebibel):
„O Nichtigkeit der Nichtigkeiten! sagt der Prediger; o Nichtigkeit der Nichtigkeiten: alles ist nichtig!“
Die zeitgenössische Gute Nachricht (Bibel 1997) sekundiert: „Vergeblich und vergänglich!, pflegte der Lehrer zu sagen. Vergeblich und vergänglich! Alles ist vergebliche Mühe.“
Von „Wind“ und „Hauch“ ist hier (wie in den meisten Übersetzungen) nicht mehr die Rede; statt dessen wird sofort dessen uneigentliche Bedeutung eingeführt und ausgesprochen, und ebendies legt vorab eine nihilistische Lesart nah: Der Wind- oder Atemhauch hat als reine „Nichtigkeit“ zu gelten, in ethischem Verständnis als „Eitelkeit“ (Hoffahrt).
Diese Lesart spurt gleich schon Martin Luther ein, wenn er in seiner Bibelübersetzung jene Eingangsstelle wie folgt formuliert: „Es ist alles gantz Eitel / sprach der Prediger / Es ist alles gantz eitel.“
Bei Huldrych Zwingli (Zürcherbibel) heisst es:
„Nichtig und flüchtig, sprach Kohelet, nichtig und flüchtig, alles ist nichtig.“
Dem entspricht recht genau, was die französische Fassung von Jean Hadot zu lesen gibt:
„Vanité des vanités. Vanités des vanités. Tout est vanité.“
Ebenso die übliche englische Fassung:
„Vanity of vanities, said Koheleth; vanity of vanities, all is vanity.“
Und russisch: „Sujetà“. „Sujetà sujèt“. „Wsjo sujetà“.
Also da wie dort:
„Eitelkeit der Eitelkeiten … Alles ist Eitelkeit.“
In eben diesem Sinn überliefert die Vulgata (lateinisch), ungeachtet der pleonastischen Ausdrucksweise, die fraglichen Verse: Vanitas vanitatum et omnia vanitas.
Doch im hebräischen Urtext ist nicht von Eitelkeiten die Rede, sondern eben − und ausschliesslich − von „Wind“ oder „Hauch“. Durch die Verschiebung von einem natürlichen und neutralen Phänomen zu einer negativ besetzten moralischen Kategorie bekommt der Text eine Ausrichtung, die er eigentlich gar nicht hat. Der Prediger desavouiert keineswegs die „Eitelkeit“ (das nichtswürdige Verhalten) der menschlichen Spezies, vielmehr verweist er, ganz allgemein, auf deren Unvollkommenheit, Verlorenheit, Vergänglichkeit.
Dafür stünde im Deutschen das fast schon sprichwörtliche Diktum vom unverbindlichen, rasch verfliegenden „Schall und Rauch“ zur Verfügung. Übersetzungskritisch wäre jedenfalls zu bemängeln, dass in den meisten Fällen nicht das vorgegebene Wort („Hauch“, „Wind“ usf.) in die Zielsprache gebracht wird, sondern dessen symbolische Bedeutung („Eitelkeit“, „Vergeblichkeit“ usf.).
Die beim Kohelet oftmals wiederkehrende Wendung vom vergeblichen, wenn nicht absurden „Haschen nach Wind“ wird von Luther konsequent umschrieben durch „eitlen Jammer“ oder „eitle Mühe“; nur bei Buber und Rosenzweig findet sich die wörtliche Wiedergabe als ein „Trachten nach Wind“, bei Gericke-Krumme heisst es: „Mühe um Wind“. Die französische Bibel spricht von „poursuite de vent“ (Jagd nach dem Wind), die russische − viel freier noch − von „tomlenije ducha“ (Bedrängnis des Geistes).
„Dunst der Dünste, spricht Versammler, Dunst der Dünste, alles ist Dunst.“ So lautet Vers 2 des Kohelet in der Neuübersetzung von Buber/Rosenzweig. Ich frage mich, ob „Dunst“, ob gar „Dunst der Dünste“ der Bedeutung des Nichtigen, vollends des Nichts zu entsprechen vermag. Denn Dunst hat, anders als das schlichte Wehen des Winds oder das Stehen der Luft, eine klar wahrnehmbare Qualität, er ist zu sehen, er ist zu spüren, man kann auch − wiewohl ohne Gewinn − nach ihm haschen.
Was mich einigermassen erstaunt, ist die Tatsache, dass in den gängigen Bibelübersetzungen (in den meisten Sprachen) für Hauch, Atem, Wind usf. nicht einfach das Wort „Luft“ verwendet wird:
„Luft der Lüfte … alles ist Luft … alles bloss Haschen nach Luft.“
Nun ist „Luft“, begrifflich gefasst und physikalisch betrachtet, auch nicht einfach „nichts“, doch als Begriff bietet sich „Luft“ als eine ganz und gar neutrale Bezeichnung für Leere, für Freiraum, für das Unmerkliche, Ungreifbare, Uneinholbare an. Einfacher geht’s nicht, und keine Lösung, finde ich, wäre plausibler.
Warum also haben Generationen von Bibelforschern und -übersetzern die Luft − als nächstliegende Entsprechung für den hebräischen „Hauch“ − ausseracht gelassen? Warum hat auch die passende Wendung von „Schall und Rauch“ keine Beachtung gefunden? Die Frage ist banal, die Antwort darauf ist es womöglich auch.
Vielleicht ist ja ebendies der Grund, weshalb es nach wie vor keine Erklärung dafür gibt.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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