Sprachliche Fehlerkultur

In den neuen Medien und sozialen Netzwerken hat die Rechtschreibung ihre Normkraft weitgehend verloren. Orthographische Fehler aller Art – vom zufällig falschen Tastendruck bis zum allgemeinen Desinteresse an korrekter Sprach- beziehungsweise Schriftform − sind gang und gäbe und werden anstandslos akzeptiert. Die Geste des punktuellen Eintippens einerseits, die Tendenz zu willkürlichen Abkürzungen anderseits tragen zur Normalisierung orthographischer Defizite und damit auch zur Akzeptanz schriftsprachlicher Fehlerhaftigkeit bei.
Solang die Verschreibung von „links“ zu rinks und von „rechts“ zu lechts erkennbar und im Textzusammenhang verständlich bleibt, gibt es ja tatsächlich keinen triftigen Grund, daran Anstoss zu nehmen, es sei denn, man habe angesichts der Normabweichungen ästhetische Vorbehalte. Diesbezügliche Mäkeleien werden allerdings weithin als lächerlich empfunden. Und doch gehört normative Rechtschreibung nach wie vor obligatorisch zur Grundschulausbildung. Korrekte Sprachverwendung (wenn nicht gar Sprachbeherrschung) wird weiterhin als elementare intellektuelle Kompetenz gefördert wie auch – tippfehlerfrei! – gefordert.
Dass der Schreibfehler, wenn man ihn nur effizient genug einsetzt, auch produktiv gepflegt werden kann, bezeugt tagtäglich und auf beliebig vielen Kanälen die Sprache der Werbung: „Ich lenke, also bin ich.“ Mit diesem Slogan wirbt einer der grossen deutschen Automobilhersteller für unbeschwertes und selbstbestimmtes „Weiterfahren“.
Nur wenige „Lenker“ werden kapieren, dass hier auf dem Umweg über einen absichtlichen Schreibfehler (beziehungsweise den Austausch eines einzigen Buchstabens) der Leitsatz des Cartesius diskret heraufbeschworen wird: „Ich denke, also bin ich.“ − Auch wer die Anspielung nicht erkennt, wird wohl im Unbewussten den Link zwischen „lenken“ und „denken“ herstellen und darf sich, wie vom Werbetexter beabsichtigt, zugutehalten, ein denkender Lenker zu sein, auch wenn er letztlich bloss als verführter Kunde dasteht.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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