In der Revue de Belles-Lettres finde ich einen bemerkenswerten Leserbrief abgedruckt, dessen Interesse durch die aktuellen Debatten um die sogenannte literarische Appropriation gegeben ist − um ein neues Verständnis von Überlieferung, Übernahme, Überschreibung, konkret auch von Plagiat und Kopie.
Der Verfasser des Briefs, der sich als enthusiastischer, weitläufig belesener Literaturfreund zu erkennen gibt, verweist am Beispiel zahlreicher Texte des 20. Jahrhunderts und der Jetztzeit auf frappierende Filiationen zwischen Autoren wie Robert Walser, Ludwig Hohl, Peter Handke und W. G. Sebald oder auch zwischen Philippe Jaccottet, Roberto Juarroz, Henri Thomas, Paul de Roux, Bernard Noël, Jean-Christophe Bailly und andern mehr. Inwieweit die intertextuellen Bezüge („Bezug“ in der doppelten Bedeutung des Begriffs als „Übernahme“ und als „Verhältnis“) bewusst hergestellt und genutzt wurden, bleibt offen. Aneignungen gehören heute in allen Künsten zur Normalität des „Schaffens“, und in Form des traditionsbildenden „Erbes“ sind sie schon immer eine ambivalente Triebkraft künstlerischer Innovation gewesen.
Rund ein halbes Hundert einschlägiger Textauszüge hat der Leserbriefschreiber als Beleg dafür zusammengetragen, dass ganz unterschiedliche Autoren − über Sprach- und Epochengrenzen hinweg − zu Einsichten und Aussagen gelangen, die weitgehend, zum Teil fast wörtlich übereinstimmen, obwohl ein direkter „Einfluss“ nicht nachweisbar, in manchen Fällen sogar auszuschliessen ist.
Statt wie üblich nach Quellen zu fragen, nach Entlehnung oder Nachahmung, sollte vielleicht auch einmal überlegt werden, ob Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen literarischen Texten beziehungsweise einzelnen Textstellen nicht auch deshalb so häufig auftreten, weil die Figuren des Denkens, der Rhetorik, der Metaphorik quantitativ beschränkt sind, nicht anders als die Anzahl der Wörter, der Laute und Lettern in jedweder Sprache; nicht anders auch als die Anzahl literarischer Textsorten, literarischer Themen, literarischer Plots, literarischer Figuren und Figurenkonstellationen.
Wäre also Literatur, literarische Tradition letztlich eine Schichtung von Blaupausen, ein fortgesetztes Verfahren des Kopierens, Schneidens und immer wieder neu Zusammenfügens, in dessen Verlauf gewisse Komponenten entfallen, andere ergänzt werden, bei dem aber eine Grundidee beziehungsweise ein Grundproblem sowie ein Kernbestand von Personal und Handlungsfäden bestehen bleibt? So dass man beispielsweise die Odyssee, die Aeneis, zum Teil auch die Göttliche Komödie, manche Heldenepen und Schelmenromane, den Don Quijote von Cervantes, Jan Potockis Handschrift von Saragossa, Fjodor Dostojewskijs Jüngling und Der Idiot auf einen gemeinsamen erzählerischen Nenner zurückführen könnte?
Intertextuelle Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen sind jedenfalls nicht allein auf direkte Einflüsse oder Anleihen zurückzuführen, wie es − im Gefolge der sogenannten Rezeptionstheorie − gemeinhin angenommen wird. Vielmehr wäre zu bedenken, ob die variantenreichen Techniken literarischer Appropriation nicht einfach daraus erwachsen sind, dass die Ausdrucksmöglichkeiten geschriebener Sprache endlich sind und eben deshalb auf Wiederholung und Abwandlung angewiesen bleiben.
Ein Gleiches gilt für soziale, politische, religiöse Riten, ebenso für Mythen, Legenden, sakrale Texte aller Art und jeder Herkunft. All diese (und auch alle andern) Sprachwerke gehören einem übergeordneten, gleichermassen endlichen Zeichensystem an, und sie weisen denn auch eine gemeinsame, wechselseitig sich überlagernde, teilweise identische, insgesamt homogene formale und thematische Struktur auf.
Als weiterer Beleg dafür könnte die von manchen Autoren beobachtete Erfahrungstatsache sein, dass sie vermeintlich „originelle“ Gedanken und „eigene“ Formulierungen nachträglich in fremden, oft sehr viel ältern Texten wiederfinden, so − als hätten sie selbst, ex post, ihre Vorgänger „beeinflusst“ oder wären von ihnen „nachgeahmt“ worden.
À propos: Ein in diesem Problemzusammenhang noch viel zu wenig untersuchtes linguistisches Phänomen wie die Homophonie und die Anagrammatik macht deutlich, dass und wie auch auf sprachlicher Ebene − gleichsam an der Textoberfläche − die Beschränktheit der zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel kombinatorisch ausgeweitet wird durch deren Variation und Permutation (oder auch einfach durch ihre Mehrfachverwendung). Woraus sich eine produktive Analogie zwischen Erzähl- und Wortkunst ziehen liesse.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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