Seit der griechisch-römischen Antike gibt es manche Verfasser, die kein abgeschlossenes, durch ihre Signatur beglaubigtes Werk hinterlassen haben und die gleichwohl als „Klassiker“ unangefochtene Autorität geniessen. Dazu gehören − nach dem „kollektiven“ Autor, den man unterm Namen Homer kennt − die sogenannten Vorsokratiker, deren poetische und philosophische Schriften lediglich aus Nachschriften (etwa von Aristoteles) und durch Zitate (etwa von Diogenes Laertes) bekannt sind und die im deutschen Sprachbereich durch die Übersetzung und Präsentation von Hermann Diels (1901/1903) überhaupt erst zu einem Faktum der Weltliteratur wurden.
Von Heraklit, der als „dunkler“ Autor zu den meistkommentierten Vorsokratikern gehört, sind nur vereinzelte Fragmente überliefert, doch wird vermutet, dass sein Werk ursprünglich ebenso umfangreich war wie dasjenige Platons. Heraklits Autorschaft beruht also, wie bei manch andern vorsokratischen Dichtern und Denkern, ausschliesslich auf Fremdzitaten, mithin auf der Überlieferung durch spätere Autoren, Kommentatoren und Skriptoren. Das Originalwerk bleibt eine unbekannte Grösse, sein überlieferter (und bei der Überlieferung naturgemäss verfälschter) Restbestand hat sich aber als hinreichend erwiesen, um Heraklits Autorschaft zu begründen und sie bis heute aufrecht zu erhalten.
Auch Georg Christoph Lichtenberg kann als Beispiel dafür gelten, dass ein Autor für ein Werk steht, das er so, wie es überliefert und bekannt geworden ist, nicht verfasst hat, mit dem wesentlichen Unterschied freilich, dass es sich bei seinen Aphorismen nicht um einen fragmentarischen Nachlass handelt, vielmehr um eine Auslese (durch spätere Herausgeber) aus einem umfangreichen Fundus von Texten, die als Originalschriften erhalten sind, von ihm selbst aber nicht in Buchform gebündelt und auch nicht als „Aphorismen“ ausgewiesen worden sind.
Ähnliches gilt für die gleichzeitig entstandenen „Fragmente“ des Novalis, aus denen eine gross angelegte philosophisch-literarische Enzyklopädie in alphabetischer Ordnung hätte werden sollen, die aber nie fertiggestellt wurde und nur auszugsweise (u.d.T. Blüthenstaub) als Vorabdruck in einer Zeitschrift erschien.
Ob Fragmente oder Aphorismen − die Frage nach dem Status und der Gattung des literarischen Werks stellt sich hier mit besonderer Dringlichkeit. Kann ein Fragment, mithin ein Bruchstück, zugleich ein Ganzes sein und also Werkcharakter haben? Oder gilt dies nur für den Aphorismus als definitiv elaborierte Literaturform? Und inwieweit können postum gesammelte beziehungsweise ausgewählte Aphorismen und Fragmente Werkcharakter beanspruchen, auch wenn der jeweilige Verfasser sie nicht als integrales Buchwerk gestaltet hat?
Diese Frage stellt sich nicht − ein Gegenbeispiel sei hier angeführt − bei Michel de Montaigne, der während zwanzig Jahren an seinen Essays (erschienen 1580-1588) gearbeitet und sie dabei immer wieder verbessert und ergänzt hat, um aus den zahlreichen Kurztexten ein Buch zu komponieren, ein Buch, das auch als sein Buch erkennbar sein sollte. Dass die Essays seit ihrem Erstdruck selten als Gesamtwerk, sehr oft aber in Auswahlbänden herausgebracht wurden, ändert nichts an ihrem ganzheitlichen Werkcharakter, da der Autor selbst (anders als im Fall von Lichtenberg, von Novalis) sie zu einem Gesamt-Werk vereint und eigens betitelt hat.
Und was bedeutet das für die Lektüre?
Liest man ein vom Autor als Buch realisiertes Werk (wie die Essays von Montaigne, die Notizen von Ludwig Hohl) anders als eine postume Sammlung oder Auswahl verstreuter Texte (wie die Aphorismen von Lichtenberg, das Passagen-Werk von Walter Benjamin), die ein späterer Herausgeber nach eigenem Gutdünken und unter eignen Gesichtspunkten vorgelegt hat?
Oder nochmal anders gefragt: Lesen wir tatsächlich Die Vorsokratiker, wenn wir die von Hermann Diels zusammengetragenen vorsokratischen Textfragmente lesen, für die der Name des Herausgebers − zitiert als „der Diels“ − gewissermassen zum auktorialen Rufnamen geworden ist?
Und haben wir tatsächlich ein Werk von Jean Paul gelesen, wenn wir dessen genialisches Ideen-Gewimmel (Erstdruck 1996) zur Kenntnis genommen haben, das er unter diesem Titel und in der uns bekannten Buchform weder geplant noch gar veröffentlicht hat?
Gefragt wäre letztlich eine Editionsgeschichte nachgelassener Literaturwerke, die oftmals − von Lukrez bis Kafka − in verfälschter, gekürzter oder auch ergänzter Textgestalt herausgegeben wurden und in solch defizienter Form epochale Bedeutung gewannen. − Georg Christoph Lichtenberg selbst zeigte sich in dieser Hinsicht bemerkenswert souverän und tolerant. Definitiv redigierten Texten („letzter Hand“) zog er nach eigenem Bekunden spontan improvisierte, dann wieder verworfene Sudeleien vor: „Bey manchem Werck eines berühmten Mannes mögte ich lieber lesen was er weggestrichen hat, als was er hat stehen lassen.“
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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