2 x 2 = 5

I

In Iwan Turgenews bekanntestem Roman, Väter und Kinder von 1862, konstatiert dessen Hauptheld, der Szientist und Positivist Jewgenij Basarow, kurz und bündig: «Wichtig ist, dass zweimal zwei gleich vier ist, und alles Übrige sind Lappalien.» Worauf Basarows eher romantisch veranlagter Freund Pigassow auf die Schönheiten der Natur verweist, die seiner Ansicht nach ganz andern Gesetzen folgt. Basarow will die Natur jedoch naturwissenschaftlich aufgefasst sehen und erwidert: «Auch die Natur ist eine Lappalie in dem Sinn, wie du sie verstehst. Die Natur ist kein Tempel, sondern eine Werkstatt, und darin ist der Mensch ein Arbeiter.»
Sicherlich hat Fjodor Dostojewskij Turgenews Romanwerk gekannt, und man darf sich seinen «Untergrundmenschen», also 
den fiktiven Autor und eifernden Protagonisten der wenig später entstandnen Aufzeichnungen aus dem Untergrund, einerseits als geistesverwandten Nachfahren des wortreichen Pessimisten Pigassow denken, anderseits als Gegenfigur zum kurzsichtigen Rationalisten und Reptilienforscher Basarow. – Der Untergrundmensch greift die Evidenzformel der «westlerischen» russischen Intelligenz mit polemischem Missmut auf und verkehrt sie in die Nonsensformel 2 x 2 = 5. Dostojewskijs Ich-Erzähler ist mit unvergleichlich viel mehr intellektueller und rhetorischer Kraft ausgestattet als Turgenews blasse Salonhelden.
Auch geht es in den Aufzeichnungen keineswegs bloss um den Gegensatz zwischen rationalem und arationalem, westlerischem und slawophilem, progressivem und konservativem Denken, sondern um die existentielle Frage, wie der Mensch – jeder einzelne – mit der zutiefst verunsichernden Tatsache fertig wird, dass für sein Denken und Fühlen und Glauben durchweg beide Formeln Geltung haben; dass er mithin von Vernunft und Einbildungskraft, von positivem Wissen und intuitiver Erkenntnis gleichermassen gelenkt wird.
Beim Untergrundmenschen hat aber naturgemäss das von Verstandes- und Verhaltensnormen Abweichende – das Absurde – Vorrang gegenüber allem Wohlgeordneten und allgemein Anerkannten. Die Formel 2 x 2 = 4 kann er wohl bequem, in mancher Hinsicht auch hilfreich finden, nicht aber dazu geeignet, Chaos und Zerstörung zu verhindern. Der Untergrundmensch, von Dostojewskij als Prototyp des russischen Menschen schlechthin konzipiert, vereinigt in seiner Person alle denkbaren Widersprüche; er selbst ist ein lebender Widerspruch in sich – er amüsiert sich zähneknirschend, er reflektiert ebenso scharfsinnig wie spekulativ und erkennt solcherart im vermeintlichen Gegensatz von Kristallpalast und Ameisenhaufen zahlreiche strukturelle und funktionale Gemeinsamkeiten.
Entsprechendes gilt auch für die «euklidische» Formel 2 x 2 = 4 und die «nichteuklidische» 2 x 2 = 5; sie stehen in unauflösba
rem Widerspruch zueinander und können doch von einem und dem selben Subjekt als gleichermassen zutreffend vertreten werden. «Doch dazu möchte ich selbst zwei Worte sagen», meint der Untergrundmensch; und Bezug nehmend auf die fatale Gebrochenheit des russischen Menschen schlechthin stellt er (sich) die rhetorische Frage: «Liebt er nicht vielleicht deshalb Zerstörung und Chaos so sehr (denn ohne Zweifel ist es so, dass er’s bisweilen allzu sehr liebt), weil er selbst instinktiv fürchtet, sein Ziel zu erreichen und das zu errichtende Gebäude fertigzustellen? […] Und warum sind Sie so fest, so feierlich überzeugt davon, dass für den Menschen allein das Normale und Positive von Nutzen ist, – mit einem Wort: allein sein Wohlergehen? Ist da nicht vielleicht die Vernunft im Irrtum über diesen Nutzen? Denn womöglich liebt der Mensch keineswegs nur sein Wohlergehen. Vielleicht liebt er in gleichem Mass auch das Leiden? Vielleicht ist für ihn das Leiden von ebensolchem Nutzen wie das Wohlergehen? Und bisweilen liebt der Mensch das Leiden ganz fürchterlich, ganz leidenschaftlich, das ist ein Fakt.»
Diese Irrungen und Wirrungen widersprüchlicher Gefühle versucht der Untergrundmensch einsichtig und nachvollziehbar zu machen, indem er auf die Evidenzformel 2 x 2 = 4 zurückgreift und sie spöttisch ad absurdum führt: «Und wer weiss (es ist nicht zu verbürgen), mag sein, dass das ganze Ziel auf Erden, nach dem die Menschheit strebt, allein beschlossen ist in diesem unentwegten Prozess des Strebens, anders gesagt – im Leben selbst, und nicht eigentlich im Ziel, welches selbstredend nichts anderes zu sein hat als zweimal zwei gleich vier, das heisst eine Formel, und doch bedeutet zweimal zwei gleich vier bereits nicht mehr das Leben, sondern den Anfang vom Tod. […] Mit einem Wort, der Mensch ist komisch gebaut; in alledem steckt offenkundig ein Kalauer. Aber zweimal zwei gleich vier ist eben doch eine ganz und gar unerträgliche Sache. Zweimal zwei gleich vier – das ist meiner Meinung nach bloss eine Frechheit. Zweimal zwei gleich vier sieht aus wie ein Lackaffe, stellt sich einem in den Weg, die 
Hände in die Hüften gestemmt, und spuckt aus. Einverstanden, zweimal zwei ist ein grandioses Ding; doch wenn man schon alles loben soll, dann ist auch zweimal zwei gleich fünf bisweilen ein allerliebstes Dingelchen.»
Noch mehrfach hat Dostojewskij in der Folge die Formel 2 x 2 = 4 als Zahlenmetapher für rationales und damit zu kurz greifendes Denken verwendet oder zumindest darauf angespielt. In einem späten Brief an Iwan Aksakow nennt er «das Axiom zweimal zwei gleich vier» ein Paradoxon und besteht darauf, dass «die Wahrheit kurvenreich und widersprüchlich» sei. Dem dezidierten Ja-ja! oder Nein-nein! zieht der Untergrundmensch – wie Dostojewskij selbst – die weit schwächere, aber auch weiträumigere Alternative des «Vielleicht, vielleicht auch nicht» vor, dem dialektischen Entweder-oder das paradoxale Sowohl-als-auch.
Wenn der Dichter Fjodor Tjuttschew zwei Jahre nach Erscheinen von Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund in einem populären patriotischen Gedicht die Überzeugung, ja die Behauptung ausspricht, Russland sei nicht «mit dem Verstand», nicht «mit gemeinem Mass» zu begreifen, sondern «einzig durch den Glauben», gibt er dem Paradoxon 2 x 2 = 5 vor dem positiven Wissen 2 x 2 = 4 eindeutig den Vorrang, trennt das Nationale vom Rationalen und bleibt somit weit hinter der Reflexionskompetenz des Untergrundmenschen zurück, der das Russische ins Allgemeinmenschliche überhöht und den Verstand mit dem Glauben zusammendenkt.
Russische Nationalisten haben das intuitive Verstehen und die Glaubensfähigkeit ihres Volks stets höher veranschlagt als das westeuropäische Vernunftdenken mit seinen Programm- und Ordnungsansprüchen. Lew Tolstoj hat einst so etwas wie einen Katalog europäischer Denk- und Bewusstseinstypen aufgestellt, der unter anderm das deutsche «Selbstbewusstsein auf eine abstrakte Idee, auf die Wissenschaft» zurückführt, das französische auf die hohe Einschätzung der eigenen geistigen und körperlichen Vorzüge, das englische auf die stolze Loyalität des Einzelnen 
zum Staat und das russische – all dem entgegengesetzt – auf die Tatsache, dass der Russe wisse, dass er nichts weiss, und dass er auch überhaupt nichts wissen wolle, da er davon überzeugt sei, dass man nichts wissen könne. – «Es gibt Dinge», schreibt Tolstoj, «die man nicht tun und nicht nicht tun kann. Das ist klar. Und nicht nur wenn, wie in bisherigen Beweisführungen, durcheinander gebracht wird, dass es ausser den Nerven nichts gibt, man aber nicht weiss, was Nerven sind, sondern selbst dann, wenn man mir dies wie 2 x 2 = 4 beweist, werde ich es nicht glauben, denn ich kann jetzt gleich meine Hand ausstrecken, kann sie aber auch nicht ausstrecken.»
2 x 2 = 4 kann nach Tolstojs Überzeugung nicht für die lebendige Wahrheit, nur für theoretische Richtigkeit stehen. Wahr ist für ihn vielmehr das, woran man, weil es absurd ist, umso mehr glaubt. Als strenger Moralist wagt Tolstoj sogar die Behauptung, dass der kein «guter» Mensch sein könne, der die Formel 2 x 2 = 4 akzeptiert. 2 x 2 = 5 ist demnach eher als eine ethische denn eine arithmetische Formel aufzufassen. «Zu fühlen, dass ich ein guter Mensch bin, war für mich wichtiger und notwendiger als dass zweimal zwei gleich vier ist.» Die Statistik wird vom Zufall, die formale Logik vom Paradoxon, das positive Wissen von der Lebenserfahrung konterkariert – Tolstoj wird nicht müde, eben darauf hinzuweisen, und er tut es stets mit Rückgriff auf die besondere Mentalität des Russentums, die er gleichermassen in einem russischen General und einem russischen Leibeigenen, in einem delirierenden Greis und in einem redseligen Stotterer verkörpert finden kann.
Dass der Glaube, wie immer geartet, das Wissen zunichte – zu nichts – machen kann und machen sollte, davon waren zahlreiche russische Patrioten aus dem Lager der Slawophilen fest überzeugt in ihrer Ablehnung des «westlerischen» Forschrittsdenkens, das sich gleichermassen am philosophischen Materialismus und an den Naturwissenschaften orientierte. Die radikalste Position hat in dieser Auseinandersetzung Wassilij Rosanow eingenommen. In einem für ihn typischen Syllogismus bezeichnete er zu Beginn des 
Ersten Weltkriegs den Tod als «auch eine Religion» und die Religion als Überwinderin nicht nur jeglichen rationalen Denkens, sondern auch der Mathematik. Mit Bezug auf die Evidenzformel 2 x 2 = 4 schreibt er («im Garten mit Blick in den Himmel»):
«Der Tod – das Ende. Die Parallelen haben sich getroffen. Naja, sie haben sich ineinander verkeilt, und weiter gibt es nichts. Nicht mal ‹die Gesetze der Geometrie›.
Ja, ‹der Tod› überwindet sogar die Mathematik.‹Zweimal zwei gleich null›.»

II

Im Februar 1920 verfasste der Dichter Wadim Scherschenewitsch, Wortführer der russischen Imaginisten, unter dem Titel 2 x 2 = 5 einen programmatischen Text, mit dem er die Prinzipien einer neuen «Bilderdichtung» darlegte. Die elementare, bewusst mit einem fehlerhaften Resultat versehene Rechnungsformel 2 x 2 = 5 sollte, wie damals in Kreisen der künstlerischen Avantgarde üblich, den gesunden Menschenverstand, das Bildungsbürgertum und die universitäre Intelligenz gleichermassen provozieren. Aus dem Text selbst geht hervor, wie die Provokation gemeint war und also verstanden werden sollte: Nicht der Zählrahmen, nicht das Abzählen an den eignen Fingern und auch nicht die Gesetze der Arithmetik sollen das Resultat der Rechnung bestimmen, sondern einzig der Wille – die Willkür – des Autors, der hier frech als Autorität wider die Evidenz einer rationalen Operation auftritt und sich nicht scheut, sie eigenmächtig auf ein irrationales Ergebnis hin zu verfälschen, wobei freilich die Verfälschung als Richtigstellung behauptet beziehungsweise die mathematische Richtigkeit als Nonsens ausgewiesen wird.
Scherschenewitsch spricht von einem revolutionären «Sprung der Methoden», der zu einem neuen «idealistischen Individualismus» geführt habe. Dem Künstler sei es vorbehalten – wenn a + b = x ist – festzulegen, welcher Wert x zukommt, denn für ihn 
stehe x grundsätzlich für «Schönheit, d.h. für das Gleichgewicht der Materialien». In der Moderne jedoch wird ästhetisches Gleichgewicht nicht mehr durch Harmonisierung erreicht, sondern, im Gegenteil, durch hartes Zusammenschneiden gegensätzlicher Materialien, durch gewollte Diskontinuität und Dissonanz, durch alogische Verknüpfungen, durch aperspektivische Darstellung und willkürliche Fragmentierung. Die Malerei des Kubismus und Expressionismus, die Dichtkunst der Futuristen oder Dadaisten sind beispielhaft dafür. Für den Imaginismus gilt: «Nur eine Strömung, in der es Widersprüche und Absurditäten, Fehler und Irrtümer gibt, kann langlebig sein. Ohne solche Überraschungen und Absurditäten wird eine Strömung zu einem blossen Standplatz.»
Scherschenewitsch weist darauf hin, dass ein sechsbeiniges Pferd in einem kubistischen Gemälde durchaus seine Richtigkeit hat und dass einzig der Künstler – ob Maler oder Dichter – in der Lage sei, wider alle Vernunft, also auch gegen die formale Logik oder die lineare Chronologie Fakten zu schaffen, denen der gleiche Realitätsstatus zukomme wie der Welt, die wir als Wirklichkeit zu kennen, zu erkennen glauben.
Künstlerischer Relativismus wird hier gegen wissenschaftlichen und philosophischen Determinismus wie auch gegen alltägliche Verhaltens- und Geschmackskonventionen aufgeboten, und die demonstrative Falsifizierung der althergebrachten Evidenzformel 2 x 2 = 4 ist naturgemäss besonders gut dazu geeignet, die arationalen und antitraditionalistischen Postulate der Avantgarde zu unterstreichen – eine Geste, die bei manchen Kunstismen der europäischen Moderne ihre Entsprechung findet. Um dieses relativistische Weltverständnis zu konkretisieren verweist Scherschenewitsch auf die schlichte Tatsache, dass Gras für den Menschen aus lauter winzigen Halmen, für die Ameise aber aus gigantischen Gewächsen besteht – beide Perspektiven seien gleichberechtigt, beide müsse sich der Künstler zu eigen und nutzbar machen.
Die neue aperspektivische Optik erschliesst auch neue ästhetische Erkenntnisse, die auf jeden Fall Priorität haben sollten vor 
überliefertem Wissen (Museen, Bibliotheken, Akademien) und automatisierter, stumpf gewordner Wahrnehmung. Als Entkanonisierung und Verfremdung ist dieser radikale Perspektiven- beziehungsweise Paradigmenwechsel rubriziert worden, man hat  ihn aber auch als «Verlust der Mitte» (Hans Sedlmayr) oder als «diktatorische Phantasie» (Hugo Friedrich) kritisch abgewiesen. Dass sich dieser Wandel im Wesentlichen, seit dem mittleren 19. Jahrhundert, gleichzeitig mit der Erschliessung nichteuklidischer Geometrien und der Ausarbeitung der Relativitäts- und Quantentheorie vollzogen hat, macht deutlich, dass – und wie weitgehend – Künste und Wissenschaften damals konvergierten, lässt allerdings auch daran denken, mit welcher Vehemenz die neuen wissenschaftlichen und künstlerischen Weltbilder lange Zeit in ihrer Konsistenz angezweifelt wurden.
Die Formel 2 x 2 = 5 bringt die Problematik für jedermann nachvollziehbar auf den Punkt. Zwar widerlegt sie nicht die Tatsache, dass 2 x 2 gleich 4 ist, aber sie macht doch – wiewohl bloss als Behauptung oder als Vermutung – deutlich, dass man als mög­liches Resultat der Rechenoperation, sofern sie unter andern Prämissen durchgeführt wird, auch 5 annehmen könnte, abgesehn davon, dass ja selbst die Namen der Zahlen 4 und 5 (die ohnehin in allen Sprachen anders lauten) austauschbar wären, ohne dass dadurch deren mathematischer Stellenwert verändert würde. Die angeblich allgemeingültige «zweimal-zwei-ist-vier-Logik» (Robert Musil) ist nicht angeboren, sondern wurde erfunden und angelernt; ihr Geltungsbereich bleibt auf die elementare Arithmetik, mithin auf ein Teilgebiet des mathematischen Denkens beschränkt. Dieses Teilgebiet ist das für die Alltagsbewältigung hilfreichste, doch auch hier gibt es diverse wahre Aussagen, die nicht zu beweisen sind. – «Um zu behaupten, dass zweimal zwei fünf ist», hat einst Karl Kraus scharfsinnig notiert, «hat man zu wissen, dass zweimal zwei vier ist. Wer freilich nur dieses weiss, wird sagen, jenes sei falsch.»

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00