Seit wenigen Wochen wohnt neben mir ein Rentnerehepaar, das jeden Tag zweimal zu ungefähr der gleichen Zeit in Streit gerät. Immer zwischen ein und zwei Uhr nachmittags, dann wieder abends ab fünf fällt der Alte mit lauten Schimpfreden über seine Frau her, die nur hin und wieder mit einem kurzen Aufschrei oder auch, seltener, mit einem schnarrenden Lachen reagiert. Es ist eine ungute Nachbarschaft.
Kürzlich bin ich nun den beiden auf dem Bücherbasar der Heilsarmee wieder begegnet, war darüber einigermassen erstaunt und fast schon versöhnt. Der alte Schreihals wühlte, tief vornübergebeugt und schwer atmend, in manchen Bücherkisten, und als er sich einmal kurz aufrichtete, um seiner Frau triumphierend ein kleines rotes Büchlein mit Goldschnitt dicht vors Gesicht zu halten, grüsste ich ihn, und der alte Herr verwickelte mich gleich in ein Gespräch.
«Noch ein Diderot für meine Bibliothek», brüllte er mir ins Gesicht: Das Paradox des Schauspielers – mein absolutes Lieblingsbuch, das ist die sechzehnte Ausgabe, die ich davon habe, ich suche und sammle seit meiner Pensionierung alles von Diderot, egal in welcher Sprache und Ausstattung. Aber vor allem Das Paradox des Schauspielers hat es mir angetan, täglich lese ich beim Mittagstisch und zum Fünfuhrtee meiner Frau daraus vor, schon mehrmals habe ich’s von vorn nach hinten durchgenommen, ein grandioses Werk.»
Für mich war damit endlich klar, was es mit dem häufigen Gebrüll in der Nebenwohnung auf sich hat; gern höre ich es dennoch nicht, aber es ist mir irgendwie erträglicher geworden.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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