2005-11-30

Habe mir vor ein paar Tagen beim Zurüsten eines Apfels tief in die Kuppe des linken Daumens geschnitten. Ein kleines Stück vom Daumenfleisch war beinah abgetrennt, das Blut liess sich kaum stillen, ich legte nacheinander mehrere Pressverbände an; Schmerz kam erst allmählich auf, die Stahlklinge hinterlässt im Fleisch mehr als nur eine Wunde und mehr als Schmerz, es ist, als klaffte dort, wo sie Lebendiges traf, ein körperliches Entsetzen. Die Verletzung war harmloser, als der dann doch länger anhaltende Schmerz es vermuten liess, aber jedes Mal, wenn ich den Verband wechselte, war ich irritiert von der rasch zunehmenden Deformation des Daumens, der überm Nagelrand stark angeschwollen, teils dunkel verfärbt, teils eitrig aufgehellt war. Das Tastgefühl war völlig ausgefallen; nur wenn ich mit dem Daumen irgendwo anstiess, jaulte der Schmerz auf. Mit Bedauern rechnete ich damit, dass der Finger so unförmig und fühllos bleiben würde, aber plötzlich – heute morgen – sah er wieder ganz normal aus, die Verbeulung hatte sich zurückgebildet, die Beweglichkeit und auch das Tastgefühl sind fast wie vor dem Schnitt wieder intakt, nur dem Wundrand entlang hat sich ein hässlicher gelblicher Saum von toter Haut gebildet. Erstaunlich allemal, wie weitgehend es dem Körper gelingt oder wie er es schafft, nach kleinern und grössern Verletzungen zu seiner Form zurückzufinden, sich selbst zu arrondieren, seine angeschlagne Kontur und Integrität wiederherzustellen. Die zwischen den Schnabelhieben des Racheadlers unentwegt nachwachsende Prometheusleber, die jeder in sich trägt, ist das eindrücklichste Beispiel dafür. Und … aber wie viele Einschnitte und Kränkungen gibt’s halt doch, die unheilbar bleiben. Markierungen jener Krankheit zum Tod, die das Leben ist.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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