Zwanzig Jahre Tschernobyl – es gibt weltweit Gedenkveranstaltungen, Gesprächsrunden, Dokumentationen, Streit über Schadenansprüche, Opferzahlen und … aber weltweit nimmt der AKW-Bau zu, Moratorien werden rückgängig gemacht, die Katastrophenängste schwinden usf.; die frappierende Meldung des Tages: Der Natur in der Sperrzone um Tsch. geht es weit besser als vor der Verstrahlung. «Heute scheint sich das Ökosystem in der Sperrzone regeneriert und mit der dort herrschenden Strahlung arrangiert zu haben.» Und: «Die Forscher bescheinigen der ungefähr 4300 Quadratkilometer umfassenden Zone um den explodierten Reaktor heute einhellig eine im Vergleich zu der Zeit vor dem Unfall höhere Artenvielfalt.»
Man merke: «Dies liegt laut Expertenberichten daran, dass der Mensch das Gebiet verlassen hat.»
Für die Natur ist der Mensch das entbehrliche Wesen, er ist das, was zu viel ist. Wo sein Wissen, sein Bewusstsein eindringen und expandieren, zeichnet sich immer auch die Katastrophe ab, selbst wenn es auf dem Weg dorthin zu gelegentlichen Hochzeiten kommt ? Kunst, Wissenschaft usf.; doch auch deren Errungenschaften sind, nicht anders als die Natur, gefährdet durch die wissen und haben wollende Menschheit. Kriege, Vandalenakte, Bilderstürme zeugen davon. Aber es genügt auch die schlichte menschliche Präsenz als Vernichtungsenergie. Die Höhlen von Lascaux, eins der frühsten Kulturdenkmäler überhaupt, mussten für Besucher geschlossen werden, weil deren Ausdünstung die während Jahrtausenden unbeschadet gebliebenen Wandmalereien schon nach wenigen Jahren zu zerstören begann. Im Traum eines lächerlichen Menschen gibt Dostojewskij eine beklemmende Vorstellung davon. Menschheitsträume mögen lächerlich oder auch erhaben sein, ihr Vernichtungspotential ist in jedem Fall – egal, welches Glücks-, Heils- oder Siegesversprechen durchgesetzt wird – apokalyptisch.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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