Nach vielen Jahren ergab sich gestern, eher zufällig, ein Wiedersehn mit B. S., der jetzt – mit neuer Frau, in neuem Haus – hier in der Nähe seinen Wohn- und Geschäftssitz hat. Vieles war nachzuholen und richtigzustellen in dem Gespräch, das in eigenartiger Intonation zwischen Süffisanz und Neugier geführt wurde.
Zu späterer Stunde, als man sich zurückzulehnen begann, berichtete B. S. von seinem Sohn, 17, der seit kurzem als Starmodel für Hugo Boss und andre international tätige Modehäuser arbeitet. Nach einem Discobesuch sei er von einem Unbekannten angesprochen und zum Casting eingeladen worden. «Why not? Der Junge hat’s gepackt und hat gewonnen, weil er» – so erklärte mir B. S. nicht ohne Stolz – «eine völlig indifferente, perfekt ‹skulptierte› Physiognomie hat, die sich effektvoll ausleuchten und geschlechtsneutral inszenieren lässt.» Gesicht und Körperformen seien so vollkommen ausgebildet, dass sie die falsche Echtheit einer Schaufensterpuppe erreichen.
Der junge Mann hat offenbar das gewisse Etwas, das heute gefragt ist; jenes Als-ob, das ihn wie einen lebensechten Dummy aussehen lässt oder wie einen falschen lebendigen Menschen, der noch unentschieden zwischen den Geschlechtern schwebt. Der Junge sei, betonte der glatzköpfige, etwas übergewichtige Vater, «ein ganz normaler Zeitgenosse, umgänglich und unproblematisch»; von seinem Glück habe er aber «eigentlich keine Ahnung», fügte B. S. mit einem schwierigen Lächeln hinzu: «Schon jetzt verdient er zehnmal mehr als ich.»
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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