2006-11-07

Der tägliche Gang durch Wald und Feld kommt mir heute ungewöhnlich leicht vor, fast wie ein zeitweiliger Abschied von der Schwerkraft; der Körper scheint sich zu verflüssigen zu einem langen Atemzug, Schritt und Respiration sind gut aufeinander abgestimmt; sanfter Niederschlag fällt mir schräg ins Gesicht, ich bin ohne Mantel und Hut unterwegs, der Regen rieselt gleichsam durch mich hindurch, rinnt mir in den Kragen und über den Rücken, was ich als äusserst angenehm, zugleich als äusserst lächerlich empfinde; doch nun kommt schon (die Zeit vergeht mir diesmal schnell beim Gehn) die freie Wiese, über die ich den Rückweg zum Dorf antrete, und da verfolgt und attackiert mich plötzlich – ungefähr auf Augenhöhe – ein riesiges, sehr schlankes Insekt, schiesst von hinten heran, umkreist mich, stösst mit einem sonoren dumpfen Laut an meine Stirn, an die Schläfen, das Kinn; das Flugobjekt, das mir immer wieder dicht vor die Augen kommt, sieht aus wie eine winzige, mit vielen Antennen, Beinen, Flügeln oder Rudern ausgestattete Granate; das verstörende Spiel dauert eine ganze Weile, erst als ich beim Schiessstand den Zugang zum asphaltierten Weg erreiche, lassen die Angriffe nach, und nun ist das surrende Tier plötzlich verschwunden; als wäre ich an dieser Stelle in einen Traum eingebogen, trete ich nichts ahnend und auch nichts erwartend auf den Petersplatz hinaus und stelle ohne Verwunderung fest – der Dom ist weg; an Stelle des Vatikans, an Stelle des kirchlichen Weltmachtzentrums, an Stelle der grandiosen Architektur, an Stelle der gewohnten Kulisse für gaffende und knipsende Touristen dehnt sich ein frisches, jedenfalls noch kaum zugewachsnes Minenfeld und; aber – ich reibe mir mit der feuchten Faust die Augen – es ist das weitläufige Pferdegehege am Dorfrand, ein mit gelbem Plastikband ausgegrenztes morastiges Terrain, wo kein Grashalm mehr spriesst; die sonst hier herumstampfenden Fohlen  sind weg; wo gestern noch der Stall war, schwelen jetzt in weisser Asche verkohlte Balken und Bretter.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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