Poetisches Schreiben muss nicht experimentell angelegt sein, es ist ein Experiment; und … aber kein Experiment fängt von vorn an, es gibt keinen Nullpunkt der Literatur. Poetisches Schreiben steht, wie jedes Experiment, am Ende eines Parcours, den andre gegangen sind. «Es liegt immer schon vieles, vielleicht sogar das meiste hinter uns», meinte gestern, verallgemeinernd, der Epistemologe Hans-Jörg Rheinberger in einem Vortrag an der Universität Zürich; und wenn er dem beifügte (ich hab’s mir notiert), dass «das eigentliche Ziel des Experimentierens darin besteht, die untersuchten Phänomene zum Sprechen zu bringen», damit «sich Neues ereignen kann», unterscheidet sich dies kaum von dem, was sich beim Schreiben abspielt und ergibt, wenn die untersuchten Sprachphänomene – Laute, Phoneme, Wörter, Wortverbindungen – zum Sprechen gebracht werden, damit auch hier aus dem Vorhandenen und dessen Vernetzung Neues sich ergeben kann. Der Ausdruck «sich ergeben» passt. Die Lösung kann nie aus dem Stand, schon gar nicht vorauseilend gewonnen werden; sie stellt sich immer erst nachträglich ein; sie «ergibt sich» wie von selbst, aber nur dann, wenn das Schreiben im Sinn eines Gedanken- oder Verfahrensexperiments zuvor angelegt, disponiert worden ist. Dann nur sind poetische Phantasielösungen möglich; dann nur kann sich finden, was nicht gesucht wurde. Phantasielösungen dieser Art sind also nicht Sache des Wollens, vielmehr des Gehen- und Kommenlassens. Voraussetzung dafür ist, beim Schreiben, die schwebende Geste – über dem Sprachmaterial – zwischen Aufmerksamkeit und Intention. «Das Experiment ist», so Rheinberger, «eine Suchmaschine, aber von merkwürdiger Struktur: Sie erzeugt Dinge, von denen man immer nur nachträglich sagen kann, dass man sie hätte gesucht haben müssen.» Eine solch merkwürdige Suchmaschine ist auch die Schreibhand, wenn sie am surrenden Leitfaden der Sprache nomadisiert zwischen Kopf und Text.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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