Die Textlänge steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Lesegeschwindigkeit. Je grösser ein Erzähltext angelegt ist, desto eher tendiert man, naturgemäss, zu diagonaler, rasch überfliegender Lektüre. Der dadurch bedingte Informationsverlust beeinträchtigt den Nachvollzug und das Verständnis des Handlungsverlaufs kaum, denn übersprungen werden gemeinhin die beschreibenden Passagen – Landschaften, Intérieurs, Physiognomien, Rückblenden – und nicht die für den Plot relevanten Episoden, welche die Spannung generieren sollen. Manche der grossen Romane liessen sich, was Personal und Intrige betrifft, aufs Novellenformat reduzieren, ohne dass die Konstruktion der Handlung dadurch verunklärt würde. Davon ausgenommen sind allerdings jene raren Erzählwerke, bei denen das Erzählen vor dem Erzählten Vorrang hat – Flaubert, Stifter, Joyce, Robbe-Grillet, Simon, Pynchon geben Beispiele dafür; weder Witiko noch Djinn oder Die Akazie sind im Überflug zu lesen. Die Verluste überfliegender Lektüre beträfen, ausser den Sachbeschreibungen, vorab die auktorialen Kommentare und Exkurse zum Romangeschehn (zum Beispiel Lew Tolstojs geschichtsphilosophische Reflexionen in Krieg und Frieden) sowie, wesentlicher noch, die sprachliche Faktur des Texts, seine «Gemachtheit», die ja nur mit Blick auf das Detail – Satzbau, Stilfiguren, Wortspiele – erschlossen werden kann. Da grade solche Details für die Poesie konstituierend sind, erfordern Gedichte (und übrigens auch Aphorismen, Anekdoten, Sentenzen) in jedem Fall eine intensive, an der Textoberfläche orientierte Lektüre. Je kürzer der Text ist, könnte man also sagen, desto länger, desto langsamer muss die Lektüre sein. Johann Wolfgang Goethes Ein gleiches lässt sich ebenso wenig überfliegen wie Johann Peter Hebels Kannitverstan.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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