Meine Lesesonntage verlege ich nach Gutdünken in die Arbeitswoche, sie können auf einen Freitag, einen Mittwoch fallen; als Sonntage gelten sie mir, weil ich dann nur lese, worüber ich nicht schreiben muss. Fürs Lesen gilt, wie fürs Lieben, die trostlose Devise: Je mehr, desto mehr.
Doch gibt’s nur noch wenige Lektüren, die für mich zählen, die mir aufhelfen können; so viel ich auch lese, kaum etwas bleibt, kann klären, überzeugen. (Hatte heute in der Hand und legte wieder weg:) Husserl, der für ein Zurück zu den Dingen, für sinnliche Wahrnehmung plädiert und dabei einen Diskurs pflegt, der eben davon nur abschrecken kann; Sartres Idiot der Familie – da werden anhand von Briefen und von reichlich Sekundärliteratur biographische Abläufe rekapituliert und gleich nochmals, mit Kommentaren angereichert, nacherzählt, was zu unsäglicher Wortinflation führt und doch nicht sehr viel mehr erbringt als obszöne Selbstbespiegelung; von Morin die Einführung ins komplexe Denken – lauter Banalitäten, Sophismen, Eitelkeiten, intellektueller Überschwang ohne Gedankenarbeit; und aber nochmals jetzt Kierkegaards Philosophische Brocken, die zwar irritieren können wegen der ständigen Wehleidigkeit und Aggressivität der Selbsterlebensbeschreibung, die aber immer wieder ingeniöse, auch ingeniös verstörende Einsichten aufblitzen lassen; enttäuschend dann wieder Hamann mit seinem Bildungswust und seiner hochgestochnen Hanswurstiade, die sich mit Zitationsakrobatik begnügt, wobei die Zitate eher beeindrucken können als die Akrobatik; auch ein neuer Versuch mit Proust (Der Gleichgültige, Die wiedergefundene Zeit) endet in der Enttäuschung, lässt mich an publizistische Zeilenschinderei denken, wird aber positiv aufgewogen durch die erstmalige, bisher vernachlässigte Lektüre einiger Meisternovellen von Schnitzler, Huysmans, Gautier, die literarhistorisch sicherlich weniger Bedeutung mit sich tragen als Proust, sich heute jedoch besser behaupten als dieser; abends, schon im Bett, die Essays von Francis Bacon, die mir beim Wiederlesen immer wieder zur Offenbarung werden, mich mit wortloser Bewunderung erfüllen für so viel Geistesgegenwart, Stilsicherheit, Lebensklugheit. Draussen noch immer der quengelnde Regen.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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