Weiter in Friedrich Hebbels Tagebüchern. Brillant der Stil, staunenswert präzis die sinnliche Wahrnehmung, produktives, fast immer an Detailfragen orientiertes Denken. Ein bedeutender Schriftsteller ist H. wohl nicht, auch kein verlässlicher Kritiker – er schätzt und überschätzt nichtige Autoren, zählt ein beliebiges Gelegenheitsgedicht, das man ihm zuschickt oder das er in einem Journal liest, ungeniert und voller Überzeugung zur Weltliteratur. Ist aber ein hervorragender Essayist, umsichtig entwerfender Schreiber, scharfer Zeitanalytiker; schon 1837 beschreibt und beklagt er die «dummklugen» Zeiten von damals so, als hätte er die Postmoderne vor Augen; er empfiehlt mir, mich für ein Experiment der Natur zu halten – was ungemein entlastend wirkt und selbst eine Krankheitserfahrung interessant machen kann. Schon H. kann festhalten: «Die Form ist der höchste Inhalt.» Und wunderliche Bilder: «Ein Dienstmädchen trägt unter einem Regenschirm einen Regenschirm.» Eine starke, gewiss noch differenzierbare Einsicht: «Der Neid trifft immer nur das Haben, nie das Sein.» Das eigene Tagebuch erfüllt ihn mit Grauen «wegen dessen, was nicht darin steht.» – «Was ist der Schlüssel zur Blume?» Naiv: «Die Sonne am Himmel.» – Fatal: «Die Schranke der Kreatur ist die Freiheit der Natur.» – Das Leben als eine «Kategorie der Möglichkeit». – Kriminologische Einsicht: «Vielleicht würde keiner den andern morden, hielte er ihn nicht für unsterblich.» – Der religiöse Glaube als eine Möglichkeit, Widersprüche zu verneinen. – «Aller Irrtum ist maskierte Wahrheit.» – Usf.
Es liesse sich aus Hebbels Tagebüchern ein Reader von hundert, zweihundert besten Seiten kompilieren – geschrieben wie für uns, seine späten Zeitgenossen.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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