Emily Wu gibt im Fernsehn Auskunft über ihr Erinnerungsbuch an die Kulturrevolution in China. Eine kleine, schmale, stetig lächelnde Frau um die 50, sehr schüchtern, die Knie locker nebeneinandergestellt und die Hände dazwischengedrückt, berichtet darüber, wie sie als Sechsjährige von einem Maogardisten vergewaltigt und am Tag danach – lächelnd – als «Musterschülerin» ausgezeichnet, als «leuchtendes Vorbild» photographiert wurde; sie fand den Vorgang damals ganz «natürlich», hielt ihn also für «normal», wie übrigens die kulturrevolutionären Exzesse insgesamt und selbst die Tatsache, dass sie ihren eignen Vater als angeblichen US-Agenten denunziert und für Jahre ins Gefängnis gebracht hat. Erst als Teenager begann E. W. über den massenmörderischen Kulturkampf und ihren Anteil daran nachzudenken, dies vorab unterm Eindruck der behördlich angeordneten Verbrennung von Büchern der klassischen chinesischen Literatur und Philosophie. Auf obrigkeitlichen Befehl musste der Verkauf von Klopapier eingestellt werden, und die Leute wurden aufgefordert, offiziell unerwünschte Bücher zu zerreissen und zum Arschwischen zu verwenden. So hat E. W. auf dem Schulklo haufenweise Bücher aus der Bibliothek gelesen, bei denen meist schon viele Seiten fehlten – sie habe das Gelesne auswendig gelernt und sich das Fehlende jeweils dazugedacht. Auch eine Denk- und Phantasieschule.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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