2007-11-26

Seit Tagen bin ich unterwegs in einem ärmlichen Land des nahen oder fernen Ostens, wo ich zusammen mit mir unbekannten Leuten durch finstre Berglandschaften wandre; dabei beschäftigt mich nun vor allem der Gedanke, wie ich von da wieder wegkomme; ich sehe diverse Land- und Weltkarten vor mir ausgebreitet, erkenne aber die Zusammenhänge der Länder und Landschaften nicht, alles ist proportional verzerrt, ich weiss nicht, wo genau ich mich befinde, woher ich komme, wohin die Reise geht; mir fällt in diesem Augenblick der Nachdenklichkeit eine junge Frau mit rundem Gesicht und intelligentem Blick auf, sie scheint mich zu beobachten, notiert oder skizziert ihre Wahrnehmungen in einem kleinen Block, ihre Schreibhand ist auffallend gross und grob; zurzeit bin ich von zwei mir unbekannten Zwillingen begleitet, die aber – sind sie zu zweit oder zu viert? – im Unterschied zu mir nicht zurückkehren wollen, wir trennen uns, die beiden entfernen sich mit ihrem Fuhrwerk; ich parke mein Kabriolett vor einer Dorfkneipe; in der Kneipe begegne ich wieder jener jungen Frau mit dem Notizblock, die mich so unverblümt beim Beobachten beobachtet; sie kommt mir jetzt plötzlich bekannt vor, hat vermutlich bei mir Russisch studiert, unsre Blicke treffen sich, ich merke, dass ich nun den langen Weg zur Liebe vor mir habe; ich lade sie ein, mit mir im Auto zurück nach Europa zu fahren, sie lächelt, begleitet mich zum Parkplatz; das pissgelbe Kabriolett ist weg, gestohlen wohl; ich habe nun die weite Überfahrt zur Behörde vor mir, Tina fährt mit, ich finde aber mit meinem gestohlnen Wagen die Ausfallstrasse nicht, schlage vor, dass wir uns in ein Café setzen, um über die Weiterfahrt zu entscheiden; Tina beginnt mich auszufragen, zuerst nach religiösen Dingen, es ist von Ikonen und Gebeten die Rede, dann nach der Familie – ich erwähne Schwester und Bruder, dieser sei zurzeit in Princeton, wo er Chemie studiere, jene mit ihrem Mann im Zweistromland; in einer Privatwohnung, wo wir nach dem Weg fragen, wird eine Weinhandlung betrieben, wir bestellen ein paar Flaschen, die wir später abholen wollen; Tina trägt nun einen beigen, etwas altmodischen Hosenanzug, sie geht vor mir her, ist eher klein gewachsen, die Hosen umschliessen satt ihre starken Beine, mich wundert, dass ihr Slip sich am Gesäss nicht abzeichnet und gleichzeitig stört mich ein wenig der Gedanke, dass nun die üblichen Liebesdinge beginnen sollen; aber wir sind schon in einer weitläufigen Villa einquartiert, mit der Besitzerin unterhalte ich mich französisch, eine Putzfrau macht sich lässig zu schaffen, aber die Unordnung nimmt zusehends überhand; wir richten uns in den Gästezimmern ein; ich hole den bestellten Wein ab; das Haus, flüstert mir im Korridor die Besitzerin zu, soll aber morgen von meinem verschiedenen Bruder übernommen werden.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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