I
Im Wiener Hotel Wandl macht mich Kurt Neumann mit dem litauischen Dichter Tomas Venclova bekannt, mit dem zusammen ich in der Alten Schmiede eine Lesung absolvieren soll. Da Venclova Deutsch nicht spricht und kaum versteht, unterhalten wir uns auf Englisch. Es stellt sich heraus, dass Venclova zur selben Zeit in Moskau gelebt hat wie ich, also in den mittleren 1960er Jahren; er als innerer Migrant aus der Sowjetrepublik Litauen, ich als Student der Universität Basel. Beide bewegten wir uns unter den Poeten von Lianosowo – Igor Cholin, Genrich Sapgir – und den Künstlern um Ilja Kabakow und Andrej Monastyrskij; wir waren im Literatendorf Peredelkino zugang, hatten Kontakt mit sowjetischen Philosophen, Kritikern, Theaterleuten. Dass es dennoch nie zu einem Zusammentreffen kam, dürfte einen einfachen Grund gehabt haben: Unsre gemeinsamen Freunde standen unter ständiger Beobachtung des Staatssicherheitsdiensts und wollten verhindern, dass Ausländer, die als potentielle ideologische Gegner oder gar als Spione ebenfalls beobachtet wurden, in ihren permanent überwachten Wohnungen sich trafen, weil solche Treffen leicht als Konspiration inkriminiert werden konnten.
Ferne Zeiten. Dazwischen liegt ein ganzes Leben, die Hälfte des seinen, die Hälfte des meinen und –
– nun sitzen wir am gemeinsamen Lesetisch, werden eingeführt als «europäische Dichter», tragen vor aus unsern jüngsten Büchern – er aus dem Sammelwerk Gespräch im Winter, ich aus Tagesform. Venclova, der von seiner deutschen Übersetzerin begleitet ist, schickt jedem Gedicht einen historischen – zeitgeschichtlichen, autobiographischen – Kommentar voraus, ohne den, wie er betont, die Texte nicht zu verstehen seien. Gleichwohl plädiert er, explizit gegen Stéphane Mallarmé, für eine engagierte, strikt wirklichkeitsbezogne und erfahrungsgesättigte Poesie. Die Geschichte, fordert er, gehöre ins Gedicht; das Gedicht, so schliesse ich daraus, ist eine spezifische Form und Weise der Geschichtsschreibung, mithin ein Versuch auch, den unaufhaltsamen Verlauf – das Schwinden – der Welt- und Lebenszeit in einem Bündel von Zeilen und Strophen kurzfristig festzuhalten als Lesezeit. – Auf den Tod seines Dichterfreunds und Präzeptors Joseph Brodsky hat Venclova 1996 mit dem folgenden lyrischen Nachruf reagiert:
Des Winters Quinten und Septimen. Wer notiert, beweist
Das Brausen unsres Herrgotts, vor Sekunden noch zu ahnen?
Sein Fernsein übersteigt das Denken. Die Verbindung reisst,
Ein Brief: Empfänger unbekannt. Kein Zittern der Membranen.
Noch flackert im Kamin, Hellseherin, die kleine Flamme,
Noch klammern Brücken, arme Ewigkeiten, diese Meeresenge.
Die Seele nur – von Nichtsein übervoll – ist wie der Stein,
Die Muschel, von der Einsamkeit zur Form verdammt.
So stehst du vor Gericht, erwachend aus der Zeiten Strom.
Auf jenes Land, das grösser ist als unsre Länder, schwören
Dich Furcht und Blindheit ein, und etwas Weisheit, Ruhm,
Sowie dein Puls, der matte, längst den Aoniden hörig.
Durch Haufen Schutt spriesst Tod, wie jedesmal im März,
Gewalt fegt hirnlos durch die Zeitungsspalten
Und über Fernsehschirme. Das beschwerte Herz
Wird eins mit seiner Umwelt. Und das nennt sich Kunst.
Man steigt doch zweimal in die Lethe. Schwarz der Stuhl,
Nun ruhn die Finger, die einst Welt in lauter Zeichen spalteten
(Nacht Ozean die Sterne Schmetterling Lebwohl)
Auf dass ein Faden bleibt zumindest – sich dran festzuhalten.
Der Nachruf ist Fazit, Verlustanzeige und Huldigung zugleich. Der verstorbne Dichter wird noch einmal vergegenwärtigt in Versen, in Worten, in einer lyrischen Intonation, die von ihm, Brodsky selbst, sein könnten und durch die er, Venclova, den Freund noch einmal echohaft zum Sprechen zu bringen versucht.
Das titellose Gedicht ist für Tomas Venclova exemplarisch insofern, als es ihn (wie alles, was er geschrieben hat) in offenkundiger Abhängigkeit von Brodsky zeigt. Obwohl er um einige Jahre älter ist als Brodsky, bleibt – was auch in der Übersetzung deutlich zu erkennen ist – seine Fixierung auf dessen Vorbild durchweg offenkundig. Der Ältere präsentiert sich gegenüber dem anerkannten Meister in der Rolle des Jüngers und scheint sich in dieser Rolle zu gefallen.
Im vorliegenden lyrischen Abgesang wird Brodsky zu einer quasimythologischen Gestalt überhöht, die nun, nach dem Übergang via Lethe ins Totenreich, nur noch den Musen (Aoniden) «hörig» ist. Zwar «ruhn die Finger» des Dichters, der einst die «Welt in lauter Zeichen» umgesetzt hat, doch sein Werk – die Parzen sind nicht weit! – überdauert als Leitfaden, an dem wir Hinterbliebne uns festhalten, uns orientieren können. Der Glaube an das Überdauern der Poesie in reissender Weltzeit, das Vertrauen auf deren wegweisende, aufklärende, aufbauende Autorität bezeugt eine zutiefst konservative künstlerische Haltung, die heute, da saisonale literarische Kurzwaren den Markt beherrschen, obsolet zu sein scheint. Sicherlich ist diese zukunftsfrohe Haltung mehr der Vergangenheit zugewandt als der Gegenwart, vielleicht gründet sie in der zusehends schwindenden Hoffnung darauf, dass die Vergangenheit irgendwann in der Zukunft erneut virulente Gegenwärtigkeit gewinnt.
Mehr als den schlichten Wörtern, die Duden, Littré oder Webster zu jedermanns Gebrauch bereithalten, gilt Venclovas Vorliebe den grossen Worten, das heisst: einer hochgerüsteten, auch das Pathos nicht scheuenden Rethorik, die der Wortbedeutung vor dem Wort als solchem stets den Vorrang gibt, wobei das Bedeutete in aller Regel nicht einfach benannt, sondern übertragen, mithin metaphorisch verbrämt wird. Einzig der kreuzweise eingesetzte Endreim (den die Übersetzung nur gerade in der ersten Strophe adäquat wiedergibt) macht deutlich, dass Venclova – auch hierin Brodsky verpflichtet – das Wort zumindest in der Reimposition nach primär klanglichen Kriterien einzusetzen weiss. Ansonsten aber lässt er die dichterische Rede als unentwegte Metaphernwucherung sich ausleben, die ein Bild nach dem andern hervorbringt und solcherart das Faktum von Brodskys Tod eher verdunkelt denn herausstellt. Die Übersetzung scheint der Verdunkelung zusätzlich Vorschub zu leisten, indem sie immer wieder unsinnige Verse produziert, die Venclovas klassizistischer Diktion zuwiderlaufen. Man nehme und lese: «Wer notiert, beweist / Das Brausen unsres Herrgotts, vor Sekunden noch zu ahnen? / Sein Fernsein übersteigt das Denken.» Abgesehen davon, dass das «Fernsein» (Gottes?) als Abstraktum das Denken keineswegs, auch nicht metaphorisch «übersteigen», wohl aber überfordern kann, bleiben die voranstehenden Verszeilen ganz und gar unverständlich; klar ist nur, dass hier eine rhetorische Frage gestellt wird, unklar aber, wer (oder was) als Subjekt zu gelten hat und wie (und ob) die Tätigkeiten des Notierens, Beweisens und Ahnens aufeinander bezogen sind.
Da ich den litauischen Wortlaut nicht kenne, ihn auch nicht verstehen würde, muss ich auf eine textkritische Lektüre des Gedichts verzichten. Auffallend bleibt auch ohnedies dessen durchgehende metaphorische Überwölbung durch Bilder von oftmals fragwürdiger Konsistenz: Brücken, die als «arme Ewigkeiten» eine Meerenge «klammern». Ein Schutthaufen, durch den «wie jedesmal im März» der Tod (doch eher das Leben?!) spriesst, denn wie sollte der Tod «spriessen» und weshalb stets im Frühling? Oder liegt an dieser Stelle ein Übersetzungsfehler vor? Weiter: Die Seele, die gleich einem Stein, einer Muschel «von Nichtsein übervoll» ist; ein grosses Land (das Jenseits?), auf das der Dichter eingeschworen wird durch «Furcht und Blindheit», durch «etwas Weisheit, Ruhm» sowie durch seinen «matten Puls»; die Kunst als ein «beschwertes Herz», das «eins mit seiner Umwelt» wird?..
Zweifellos wäre Tomas Venclova in der Lage, diese mir unverständlichen Metaphernbildungen und Vergleiche zu klären, sie zurückzuübersetzen in leicht nachvollziehbare diskursive Aussagen. Ich selbst kann mir allerdings einen Vers wie diesen problemlos erklären: «So stehst du vor Gericht, erwachend aus der Zeiten Strom.» Mit «du» wird hier Brodsky angesprochen, der eben erst aus dem Zeitstrom seines Lebens erwacht, also gestorben ist und nunmehr im christlichen Jenseits vor dem Obersten Richter oder gar vorm Jüngsten Gericht steht – ein Bild freilich, das in der Folge konterkariert wird durch die Unterwelt (Lethe) des heidnischen Altertums, so dass das gesamte Metaphernkonstrukt in sich zusammenbricht. Doch was bringt mir denn überhaupt, was bringt dem Leser die Erklärung und Erschliessung von Metaphern, die nichts andres übertragen (oder verbergen) als das, was mir, was dem Leser vorab schon bekannt ist und was sich mit gleichem, wenn nicht gar höherm Erkenntnisgewinn auch prosaisch sagen liesse? Bemerkenswert ist allemal, dass Venclova seine Lyrik der politisch und moralisch «engagierten» Literatur zuordnet, bemerkenswert deshalb, weil sein Engagement durch erlesene Metaphorik durchweg verunklärt, stellenweise ins Absurde verkehrt wird – eine Folge dessen vielleicht, dass er in seiner Heimat lange Zeit gegen die Sowjetzensur anschreiben und den Gegenstand seines «Engagements» kaschieren musste. Hebt man den metaphorischen Plafond seiner Gedichte ab und folgt man den Erläuterungen, die er dazu gibt, wird denn auch einsichtig, wie tief sie von erlebter Geschichte und realer Zeitgenossenschaft durchwirkt sind.
II
In der Diskussion mit Tomas Venclova plädierte ich dafür, «die Geschichte» den Journalisten und Historikern zu überlassen, und ich fügte hinzu (unterstreiche es auch hier), Geschichte und Erfahrung könnten – in meinem Fall – das zu schreibende Gedicht wohl imprägnieren, nicht aber mit Stoff versorgen. Geschichte, als geschriebne, baut sich nicht aus Fakten und Ereignissen auf, vielmehr aus Wörtern, durch welche sie dargestellt, vergegenwärtigt werden, wobei Personen- und Ortsnamen als wichtigste Orientierungspunkte fungieren. Auf dieser zunächst rein sprachlichen Ebene kann Geschichte auch für mich, auch fürs Gedicht von Interesse sein. Selbst das Wort «Geschichte», das gleichzeitig – von seiner gängigen Bedeutung abgesehn – ein reichhaltiges Kofferwort ist, könnte als Impulsgeber einer poetischen Schreibbewegung für mich zum Attraktor andrer, klangähnlicher Wörter werden (z.B. Gesicht, Schicht, Sicht, Gischt, Gicht, Ich u.a.m.), woraus dann allenfalls ein gleichermassen lautliches wie semantisches Beziehungsfeld entstünde, das bei der Entstehung – beim Machen – des Gedichts allmählich angereichert oder auch: heruntergeladen wird. Dabei ginge es mir keineswegs darum, an geschichtliche Ereignisse oder an Selbsterlebtes zu erinnern, daran anzuknüpfen oder mich daran abzuarbeiten. Wie inadäquat Geschichte aus Gedichten spricht, ist durch beliebig viele Verse dokumentiert, die vor Ort, in unmittelbarer Nähe zum Geschehn, verfasst wurden – Gedichte aus dem Krieg, der Diktatur, der Gefangenschaft, der Verbannung. Zur Kunst des Gedichts hat die engagierte Poesie, weder die offiziell noch die oppositionell praktizierte, kaum je etwas Innovatives und Nachhaltiges beigetragen.
Auch wenn ich Historisches in meinen dichterischen Sachen nicht explizit thematisiere, können geschichtliche Fakten, Episoden, Persönlichkeiten gleichwohl in die Texte eingehn. Dies jedoch nicht in darstellerischer, vielmehr in evokativer Weise, will heissen durch die Aufrufung bestimmter Namen oder Begriffe, die primär durch ihre Lautgestalt und deren assoziative Entfaltung Anteil an der Textentstehung haben: um sie herum baut sich in der Folge das Gedicht nach Massgabe klanglicher Übereinstimmungen und rhythmischer Erfordernisse auf.
Ich möchte dies mit Rückgriff auf das Gedicht Bildnis kurz verdeutlichen. Der vier Strophen zu je drei Versen umfassende Text entstand (ich weise in einer Klammerbemerkung darauf hin) mit Blick auf eine späte Photographie des sowjetischen Dichters Wladimir Majakowskij. Man sieht ihn darauf in Rednerpose vor einem gigantischen Auditorium von Rotarmisten, denen er seine Revolutionsverse vorträgt. Auf einem im Saal aufgespannten Spruchband liest man in Russisch den Slogan OHNE BUCH KEIN WISSEN OHNE WISSEN KEINE … – das letzte Wort ist durch Retouche unkenntlich gemacht. Als das Bild aufgenommen wurde, 1929, hatte Majakowskij seinen revolutionären Enthusiasmus bereits verloren; er war 38 Jahre alt, durfte sich für den wortmächtigsten Barden der Bolschewiki halten, geriet aber zunehmend unter ideologischen Druck von Seiten orthodoxer Parteifunktionäre, die ihm vorwarfen, das proletarische Publikum mit seinen formalistischen Experimenten zu überfordern, statt ihm eine klare politische Botschaft zu übermitteln. Majakowskij fühlte sich durch solche Kritik persönlich zutiefst gekränkt und in seinem Dichtertum verkannt; es wurde ihm klar, dass er sich als Galionsfigur der offiziellen Sowjetpoesie bis zur Selbstzerstörung verrenken, sich selbst «auf die Kehle treten» musste, um den Anforderungen der Literaturfunktionäre zu genügen. Noch steht er (das Bild zeigt ihn von unten rechts, lässt ihn als monumentale Gestalt erscheinen) aufrecht vor seiner Zuhörerschaft, er rezitiert – auswendig wie immer – mit gerecktem Kinn und schwenkt dabei den linken Arm, als wär’s ein Flügel.
Hier die erste Hälfte meines Gedichts:
Da ist die Wir!-Stirn
mit dem Anflug von Trotz
und Traum und «warte nur balde».
Da ist – gehisst an Stelle
der Braue rechts – das pelzige Ohr
wie’s den Riesen verrät. Da ist – noch heiss –
das Lid das den vorletzten
Blick hält. […]
Im Namen des Proletariats, das er zum kollektiven lyrischen Subjekt erhoben hat (so in den Poemen Wir und 150 000 000), bietet der Dichter den Widersachern des Bolschewismus die Stirn; sein Trotz gilt den Funktionären, die sein Genie einschränken und begradigen wollen; sein Traum ist die viel berufne «lichte Zukunft» des Kommunismus. In der Verlängerung der rechten Braue sieht man auf der Photographie das grosse, gleichsam nach hinten gerichtete Ohr, durch das er sich – wiederum gleichsam – von der Muse seine Verse soufflieren lässt. Majakowskijs gesenkter Blick ist eher nach innen denn nach vorn zum Publikum hin gerichtet. Derweil er Lenin, die Revolution, die UdSSR lauthals preist, hat er sich (man weiss es aus seinen privaten Papieren) längst davon verabschiedet. Seit Jahren begleitet ihn der für einen Kommunisten anstössige Gedanke, freiwillig in den Tod zu gehn, seinem Leben «mit Blei» ein Ende zu setzen; das Teilzitat «warte nur balde» steht für Majakowskijs unausweichlichen Todeswunsch.
[…] Da ist die Schläfe für den
bleiernen Schlusspunkt und – etwas weiter unten –
gewaltig der Schlaf.
Da ist denn auch bald schon –
zu schön und notwendig – der Engel.
Auf den Schlusspunkt – den Schuss – folgt als gewaltiger Schlaf der Tod, und jetzt kann auch der gereckte Arm des brüllenden Dichters zum Flügel werden, wodurch das Genie notwendigerweise die schöne Gestalt eines Engels annimmt. – Wenn ich diese teils faktischen, teils assoziativen Zusammenhänge hier benenne, könnte man wohl zur Annahme kommen, das Gedicht Bildnis sei eine lyrische Darstellung der Photographie von 1929. Der Text löst diese Erwartung allerdings in keiner Weise ein. Für den Leser bleibt völlig unklar, mithin völlig offen, auf was für ein «Bildnis» das Gedicht sich bezieht. Kaum jemandem hierzulande dürfte die Vorlage bekannt sein, und der Text liefert keinerlei Hinweise darauf, wie man sich die Photographie vorzustellen hat. Doch das ist nicht der Punkt; und dafür braucht’s auch kein Gedicht. Das Gedicht – dieses Gedicht – geht nicht auf die Bildvorlage ein, es geht von ihr aus. Das heisst, es knüpft an ein paar wenige Wörter an, die ich mir, die Photographie vor Augen, spontan notiert und später miteinander vernetzt habe, zum Beispiel die Wörter Wir/Stirn, Trotz/Traum, gehisst/heiss, Lid/Blick, gewaltig/Schlaf/bald, schon/schön usf.
Für mich, für das Gedicht sind diese Wörter vorab in ihrer Schrift- und Lautgestalt von Interesse; nicht ihre Bedeutung investiere ich in den Text, sondern ihre sinnlich wahrnehmbare Qualität, und der Sinn dieser Investition wird – so wünsche ich’s mir – vom Leser realisiert. Als Autor des Gedichts, mithin auch als sein erster Leser komme ich naturgemäss, also notwendigerweise zunächst selber zum Zug; und auch ich muss, wie jeder spätere Leser, einen Sinn dessen zu gewinnen versuchen, was das Gedicht, derweil es sich schreibt, hervorbringt. Nicht immer gelingt mir dies; nicht immer werde ich schlau aus dem, was unter meiner Hand entsteht, und bin mir doch sicher, dass es seine – poetische – Richtigkeit hat.
Auch wenn sich Majakowskij nachweislich ins Herz und nicht in den Kopf geschossen hat, braucht es im Kontext des Gedichts «die Schläfe für den / bleiernen Schlusspunkt», damit nachfolgend «gewaltig der Schlaf» (Tod) eintreten kann: der Schlaf, genauer: das Wort «Schlaf» fungiert in diesen letzten Zeilen als Attraktor und ruft via Klangähnlichkeit nach der «Schläfe», nach «gewaltig» und «bald» (-la-/-al-), nicht anders als der «Engel», der durch das Phonem -en- in den Wörtern «denn» und «notwendig» gleichsam angekündigt wird innerhalb einer Klangfolge, zu der im Übrigen auch die ganz anders lautende Reihe «schon», «schön», «notwendig» (-on-ön-no-) gehört. Es ist mehr als ein Kalauer, wenn ich mein Gedicht als das bestimme, was sich gehört. Was sich gehört, ist das, was sich genügt, aber auch das, was seine Notwendigkeit und seine Richtigkeit selbst dann hat, wenn es ungehörig ist. Wiewohl vorgegebne Bedeutung in jedem Gedicht mitschwingt, bleibt doch das Wesentliche der Sinn, der erst im Akt des Lesens – also immer wieder anders – sich ergibt im genauen Hinsehn auf das, was dasteht, und durch aufmerksames Heraushören dessen, was die Wörter verlauten lassen und zu sagen haben.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
Schreibe einen Kommentar