Heute beim Gang über den Friedhof von Romainmôtier – ich besuchte das frische Grab eines Nachbarn – stellte sich mir einmal wieder Frage, weshalb der Tod in diesem seinem Revier, wo er gegenständlich erinnert wird, ausschliesslich Kitsch aufkommen lässt. Denn wie in andern Friedhöfen sind auch hier Grabsteine und Grabschmuck allesamt von einer Geschmacklosigkeit, die weder zum Pathos der Trauer noch zum «Denk mal!» der Erinnerung in irgendeiner Relation stehn. In unbedarft gehauenen Platten und Stelen, in Granit oder Marmor eingelassen die verwehten Namen und Lebensdaten, scharf ausgezeichnet vom Rampenlicht der tief stehenden Abendsonne. Statt Friedhöfe in der üblichen Form weiterzupflegen und immer wieder umzugraben, wäre doch wohl – da auch der Boden knapp und teurer wird – zu überlegen, ob ihre Gedenkfunktion nicht auf Hologramme übertragen werden könnten. Statt Grabmälern also Lichtskulpturen, die in kleinen Kapellen unterzubringen wären. Das könnte ein schönes leises Schauspiel sein für eine Minute der Erinnerung, bräuchte wenig Platz und keine Pflege; doch verloren ginge dabei der sinnliche Bezug zur Person des Toten, der mir nur dann erfahrbar wird, wenn ich die Gravur seines Namens auf dem Grabstein mit dem Zeige-, dem Mittelfinger ertaste.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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