Ältern

Vorab in der sogenannten Alten Welt ist das Altern – das Immer-älter-Werden – zu einem publizistischen Trendthema geworden, das in vielfacher Perspektivierung unter dem Titel «Aging» (oder auch «Anti-Aging») weithin zur Verhandlung kommt. Um einiges älter ist die Debatte über das Altern als Problem für Künstler. Gottfried Benn hat 1954 mit einem süffisant intonierten Monstervortrag Bedenkenswertes dazu beigetragen. Den alternden Zyniker beschäftigte damals aber ausschliesslich die Frage nach dem «Formwandel vom Frühwerk zum späten Stil». Bei sozialen, wirtschaftlichen, politischen Implikationen mochte er sich nicht aufhalten – seine Pauschaldiagnose lautete, schlicht stabgereimt, auf «Müdigkeit, Melancholie, Marasmus». Doch konnte er im Zeichen dieser eher desolaten Triade auf eine lange Reihe von genialen «Spätwerken» zwischen Michelangelo und Lew Tolstoj verweisen, auf «diese ganze bionegative Olympiade», die zugleich «eine europäische Olympiade» von höchstem Rang war.

«Lebensabende, diese Lebensabende!»

Der späte Benn hat beobachtet, dass «spät» vorzugsweise in der Literaturgeschichte als stilkritischer Begriff verwendet wird: der «späte» Goethe, der «späte» Rilke. Was aber ist es, das den Spät- oder Altersstil ausmacht? Dafür findet Benn in der einschlägigen Sekundärliteratur Begriffe wie klassisch, ausgereift, monumental, aber auch – in eklatantem Widerspruch dazu – leicht, frei, abgehoben, beseelt, vergeistigt.

Was gilt?

Benn lässt den Widerspruch stehen. Beispiele für beide Varianten gibt’s zur Genüge. Den «späten» Rembrandt findet er «kalt», den «späten» Tintoretto – «ranzig». Was jedoch alle «grossen Alten» verbinde, sei die Tatsache, dass sie «ohne Idealismus» auskamen, was wohl heissen soll: ohne Illusionen. Keine Höhenflüge mehr, keine Hoffnungen, keine grossen Projekte, nur noch «das Mögliche» ist anzustreben, aber es ist auch zuzulassen. Enthusiasmus könne, meint Benn, nur Dilettanten beflügeln. Wohl sieht er die Alten, sieht er auch sich selbst «im Gram der Müdigkeiten, im Grau der Leere», und doch rät er den «späten» Autoren zu radikalem Eigensinn:

«Formulieren Sie Ihre Thesen auf das rücksichtsloseste, denn Sie sind nur nach Massgabe Ihrer Sätze vertreten, wenn die Epoche zur Rüste geht und dem Gesang ein Ende macht.»

Viele «späte» Autoren scheinen davon auszugehen, dass mit ihnen auch ihre «Epoche» altert, dass mit ihnen ihre «Welt» verschwinden wird. In seinem Gesprächstext Drei alte Männer bekräftigt Benn diesen Sachverhalt:

«– die Welt ist nicht mein Wurf und die Erkenntnis nicht mein Jammer, darum sage ich Ihnen: steigern Sie Ihre Augenblicke, das Ganze ist nicht mehr zu retten …»

Aber «alt sein» heisst auch, «das Äusserste wagen dürfen». Rücksichtslosigkeit, Intoleranz, Zorn, Aggressivität stellen sich unter solchen Auspizien fast schon naturgemäss ein, da kaum noch etwas zu verlieren und sicherlich nichts mehr zu gewinnen ist. Viele der «grossen Alten» leben schon gar nicht mehr, sie überleben bloss und merken nicht, dass sie vor allem sich selbst überleben.

Nicht selten treten dann auch, im Sprachgebrauch wie im Verhalten, infantile Züge hervor, die scheinbar noch einmal die verlorene Kindlichkeit aufleben lassen. Der Rückgriff auf Kindliches wie auch der Schwund ins Kindische, die Entmächtigung des auktorialen Wollens ebenso wie das Zulassen einer von Alter, von Krankheit geschwächten Sprachbeherrschung sind charakteristisch für den literarischen Spätstil. Die letzten Worte des Greises, des Weisen scheinen zu korrespondieren mit den ersten Worten des Kindes – Noch-nicht-sagen-können und Nicht-mehr sagen- wollen scheinen zu interferieren. Der Schwundprozess erfasst sowohl den Autor in seiner Körperlichkeit wie auch dessen Sprache in ihrer individuellen Ausprägung und Integrität. Der strukturelle, vorab der syntaktische Zusammenbruch der Sprachform kann, wie zahlreiche späte Schriften und letzte Worte es belegen, schliesslich in ein Stammeln oder Lallen übergehen, das dem unverständlichen Raunen eines Orakels gleichkommt. Elias Canetti, der die Eigenart des literarischen Spätstils besonders aufmerksam beobachtet hat, spricht diesbezüglich ebenfalls von einem Schwundphänomen:

«Undeutlich werden, die Meinung verbergen, alles beinah sagen, zum Orakel verkommen.»

Autor und Text «verkommen» demnach gleichermassen, driften ab ins Unverständliche. Canettis Feststellung trifft allerdings genauso, vielleicht noch mehr auf geisteskranke Autoren zu, deren Sprache gleichsam autopoetisch sich aufbaut und die weit mehr Formwillen als Aussagekraft in sich aufnimmt.

Geradezu exzentrisch in ihrem Optimismus nehmen sich demgegenüber jene Stimmen aus, die dem Alter zugutehalten, es vermöge den körperlichen Niedergang – Schwäche, Schmerzen, Impotenz – zu kompensieren durch zunehmende Geistigkeit, die schliesslich gar als Weisheit und Beseeltheit die Oberhand gewinne über den rottenden Leib. «Doch mag auch der Körper nun unbeschäftigt sein, so ist doch meine Seele noch regsam», notierte einst mit trotziger Melancholie der naturselige Jean-Jacques Rousseau auf seiner ersten Promenade: «Sie erzeugt noch immer Gefühle und Gedanken; ja, ihre geistige Aktivität scheint durch das Absterben aller irdischen und zeitlichen Interessen sogar zugenommen zu haben. Mein Körper ist mir nur noch ein Hindernis und eine Last, und ich entledige mich seiner schon jetzt, soweit ich kann.»
Dass «das Leben sich dem Geist entgegengesetzt verhält», hat später (im Hinblick auf den alten Goya) auch Charles Baudelaire festgehalten, in der hochgemuten Überzeugung, dass alle «gros
sen Künstler» kraft ihres besonderen Schicksals «auf der einen Seite gewinnen, was sie auf der anderen verlieren und so, einer vorwärtsschreitenden Jugend folgend, geschickter, munterer und kühner werden bis an den Rand des Grabes». Wenn Theodor Fontane seine späten Briefe gelegentlich mit «dein alter Alter» signierte, meinte er damit wohl ein Gleiches – als Greis war er nicht bloss ein «Alter», er war auch, wie die lateinische Homophonie es nahelegte, ein «Anderer» geworden: ganz Geist und Seele, doch wie sehr schon geschwächt in seiner Körperlichkeit! Der Dichter William Butler Yeats fand in der Folge die lapidare Formel für diesen in sich selbst rekurrenten Prozess:

«Verfall der Körper: Weisheit.»

Doch das poetische Diktum kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der körperliche vom geistigen Verfall meist nicht zu trennen ist und dass greise Weisheit weder Gedächtnisschwund noch Altersschwachsinn aufzuhalten vermag.

II

Zu den Klischeevorstellungen vom Lebensabend des Künstlers oder des Philosophen gehört das Bild eines vom Alter gebückten Menschen, der mit dem Rücken zur Welt sein Gärtchen hegt und über die Wiederkehr des immer Gleichen räsoniert. Es ist das Gegenbild der Vanitas, der stetigen Vergeblichkeit, die sich im grinsenden Totenschädel, in der umgekippten Sanduhr, im abgerissnen Faden konkretisiert. Der britische Schriftsteller Michael Hamburger, 1924 als Deutscher in Berlin geboren, hat im Exil einen Garten angelegt, den er bis in sein hohes Alter rund ums Jahr mit grossem Einsatz unterhielt. Für ihn war dieser Garten aber kein weltfernes Idyll, sondern – nicht anders als die Schreibstube – ein Arbeitsraum, dem es im Wortsinn zu entsprechen galt.

Die Natur diktiert dem Gärtner, was er zu tun hat, so wie die Sprache dem Dichter diktiert, was er zu schreiben hat, und Hamburgers Wunsch, vielleicht auch bloss die Hoffnung, beschränkt sich darauf, von diesem oder jenem Baum des eignen Gartens, von diesem oder jenem Gedicht aus dem eignen Werk überdauert zu werden.

Damit der Garten gedeihen, das Werk sich mehren kann, ist dort Verzicht zu leisten, wo früher investiert wurde. In einem seiner späten Gedichte hat Hamburger die Amnesie als «Muse des Alters» gefeiert – statt sich über Vergesslichkeit und Vergessenwerden zu beklagen, versucht er, eben daraus eine neue Freiheit zu gewinnen: geschehen lassen statt durchsetzen wollen, präsent sein in der Abwesenheit statt fremd sein in geschäftiger Präsenz. «Wenn man sich an das Ausbleiben und Ausgelassenwerden gewöhnt hat», schreibt Hamburger in seinem späten Versuch Über das Altern, können diese zu einer Befreiung, einer Erleichterung werden – so wie die Einschränkungen des Alters, die körperlichen und geistigen, einen auch von manchen dann ganz entbehrlichen Bedürfnissen und Bedrängnissen befreien. «Dazu gehört das Aufräumen im Kopf, das Vergessen der zu vielen Namen und Daten …» Und was den Garten betrifft:

«Wenn ich noch säen und pflanzen wollte, musste ich nun vor allem fällen, roden, zurückschneiden.»

Das ist nicht nur eine brauchbare Lebensweisheit, es ist auch, per Analogie, eine kleine Poetik. Nun sass jedenfalls Michael Hamburger, der weit über Achtzigjährige, nicht hinter mannshohen undurchdringlichen Hecken und liess die Welt schlechte Alltäglichkeit sein, nein, er nahm mit souveräner Gelassenheit wahr, was draussen vor sich ging, und immer wieder hielt er’s zumindest punktuell fest, kommentierte es, zog Schlüsse, enthielt sich aber des Urteils. Auch für ihn scheint sich der persönliche Alterungsprozess synchron vollzogen zu haben mit dem Niedergang jener kulturellen Qualitäten und Werte, die ihn so stark prägten und für deren Erhalt er mit seinem Werk auch eingetreten ist. Er weiss, dass «hohe» kulturelle Qualitäten und «bleibende» kulturelle Werte nicht mehr gefragt sind; er beobachtet, wie das «geschriebene Wort» durch die «elektronischen Medien» verdrängt wird; er bedauert, dass «junge Menschen die Fähigkeit verloren haben, sich für längere Zeit auf irgend etwas zu konzentrieren», weil «das Bedürfnis nach schnellem Konsum oder nach Ablenkung (doch Ablenkung wovon?)» dies verhindert oder es einfach überflüssig macht, so überflüssig wie die Lektüre eines Gedichts. Das sind für die Poesie und deren Fortbestehen denkbar schlechte Voraussetzungen.

Der Literaturkritik wirft Michael Hamburger vor, den «Blick in zunehmendem Masse ohnehin vom eigentlichen Text auf die Person des Autors» zu lenken, der ja heute tatsächlich weit mehr nach seinem Auftritt, seinem Image, seinen Interviews, seiner Homepage, seinen Homestories beurteilt wird denn nach seiner die jeweilige Saison dauernden künstlerischen Leistung. Dies alles, meint Hamburger, «lässt das Ende einer ganzen Kultur erahnen», die als «elitär» eingestuft und bereits weithin abgeschrieben werde. Gleichzeitig baut sich eine Bedrohungskulisse globalen Ausmasses auf, die immer grössere Umweltkatastrophen, immer stärkere politische, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen erwarten lasse:

«So würde jede Vorhersage über die Zukunft der Poesie auf der selbstgefälligen Annahme beruhen, es gäbe noch ausreichend Zeit, die schlimmeren Verheerungen abzuwenden.»

Selbstgefällig? Mit dieser und ähnlichen Formulierungen macht Hamburger deutlich, dass er der Poesie, der Kunst keine rettende Kraft mehr zugesteht und dass ihr Ende genauso unausweichlich ist wie sein eigener physischer Tod, der freilich nur eine Variante dessen sein werde, was er so oft schon erlebt hat, nämlich «das Totsein» des Dichters, «wenn er nicht schreiben kann».

Wenn der Dichter nicht schreiben kann, bedeutet das bloss, dass das Gedicht sich nicht schreiben lässt; denn «was in einem Gedicht schreibt, ist ein Suchen ohne Anfang und Ende. Entweder regt es sich, oder es ist tot; und dieses Totsein wiederholt sich ebenfalls, so dass man als Lyriker mindestens so viele Leben hat wie die sprichwörtlichen neun einer Katze.»

Leben von Tod zu Tod? Fataler Trost.

Von daher ist jedenfalls nicht nur das «Altern als Problem für Künstler» zu bedenken; zu bedenken ist auch, schlechthin, das Altern beziehungsweise die Überalterung der Literatur als Kunst.

III

Wie altern, wie scheitern, wie enden?

– für Ilse Aichinger, sie ist vom Jahrgang 1921, macht das keinen Unterschied; es ist der Rede, der Frage nicht wert, weil wir hienieden ohnehin nichts andres zu bestehen haben. Selbst der Beckettsche Imperativ, doch wenigstens besser zu enden, gilt für sie nicht, denn sie hält die Welt für ebenso verfehlt wie ihre eigne Existenz, und in jedem Beginn erkennt sie vorab den Zerfall, hört schon das Rotten, sieht schon das Ende ab. Ob junges Jahr oder frisches Glück, alles «beginnt wie jedes Neugeborene rasch weiter zu altern», Leben ist bloss ein andres Wort für Sterben und die menschliche Existenz, die man hierzulande eher mit Streben denn mit Sterben zusammendenkt, erweist sich unweigerlich als eine schlimme, die wohl schlimmste Krankheit zum Tod.

Nicht zu vergessen, «dass das Alte mittlerweile viel zu spät stirbt und das Neue nach wie vor – und ob es will oder nicht – geboren wird. Mit dem ersten Schrei und seinem oft kaum überhörbaren Beiklang von Verzweiflung.»

Von Verzweiflung, auch von Zorn und bisweilen von tiefer Verachtung sind die kurzen Prosastücke geprägt, die Ilse Aichinger im Jahresverlauf 2005 für die Wiener Tageszeitung Die Presse als Glossen verfasst hat und die unter dem eher germanistisch denn deutsch klingenden Titel Subtexte in Buchform vorliegen. Gegenstand dieser kurzen Gelegenheitsarbeiten sind Wahrnehmungen aus der Alltagswelt, vermischte Meldungen aus der Boulevardpresse, Erinnerungen aus dem eigenen, meist frühkindlichen Leben, dazu Gedanken und Einfälle, bisweilen aphoristisch zugespitzt, über Gott und dessen verfehlte Schöpfung.

Literarische Ambitionen lassen sich in diesen Texten nicht erkennen, die Autorin scheint möglichst unverfälscht, gleichsam protokollarisch festhalten zu wollen, was ihr an ihrem Schreibplatz im Café Jelinek aufgrund ständig wechselnder äusserer Anstösse durch den Kopf geht. Mehrheitlich bewirken diese Anstösse schmerzliche Irritationen und Reminiszenzen, es braucht bloss ein Wort – gehört oder gelesen – und gleich fühlt sich Ilse Aichinger zurückversetzt in ihr einstiges Ungemach, in die Schreckenszeit des Naziterrors, in den opportunistischen und gleichmacherischen Nachkrieg, bis ihr plötzlich – immer wieder neu – bewusst wird, dass auch ihr heutiger Alltag voller Schrecken und das heutige Österreich ein Land des schleichenden Terrors ist, regiert vom Terror einer nie verjährbaren Mediokrität, ja Dummheit, der «kein Lebensalter» je wird abhelfen können.

Der Mensch ist unannehmbar. Mit solchen und zahlreichen ähnlichen Sätzen lässt Ilse Aichinger den ihr «unerlässlichen» französischen Geistesverwandten E.M. Cioran für sich sprechen; sie greift manche seiner Themen auf, variiert sie, reichert sie an mit Fallbeispielen aus ihrer eignen horrenden Lebensgeschichte und aus dem trivialen Wiener Alltag zwischen Schule und Klinik, Kino und Kaffeehaus. Bei aller Übereinstimmung fehlt ihr aber Ciorans luzider, manchmal geradezu poetischer Zynismus, und auch dessen melancholische Heiterkeit ist ihr weitgehend fremd. Alles bei ihr bleibt schwer, schicksalsschwer, gedankenschwer, und nur ausnahmsweise ist diese Schwere aufgehoben in einem entsprechend kompakten Satz, der Form und Aussage adäquat zur Deckung bringt. Etwa dort, wo sie von der Möglichkeit jeglicher Brutalität «bei uns» in Österreich spricht und dazu festhält:

«Das macht das Land hier unverwechselbar. Aber ich kenne diese Art von Unverwechselbarkeit, sie ist mir nicht fremd. Nicht nur deshalb möchte ich nicht in die Fremde, sondern will in der Fremde bleiben, die mörderisch, aber vertraut ist. In Wien.»

In solchen – hier eher seltenen – Momenten geben die Subtexte Formulierungen frei, die zugleich mörderisch und tröstlich sind, weil ihre Wahrheit nicht allein durch Erfahrung, sondern auch durch sprachlichen Formwillen beglaubigt ist.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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