Badiou? Chrysipp?

«Liebe ist, wenn wir sagen können, dass wir den Himmel haben und der Himmel hat nichts.» – Die einzige taugliche Textsorte, so heisst es an einer Stelle bei Florenskij, sei das Zitat und; aber wer oder was wird hier zitiert? Wie tauglich ist ein anonymes, mithin an keine Autorität gebundenes Zitat? Oder ein Zitat, zu dem keine Quelle bekannt ist? Erinnert man sich? denkt man daran? – dass manche Philosophen der griechischen Antike, darunter die Kyniker und einige der stärksten Vertreter der Stoa, nur aus zweiter Hand bekannt sind, da ihre Originalwerke entweder verlorengingen oder nur mündlich abgefasst wurden. Und worin liegt das Faszinosum «direkter Rede», die man – wie bei Janouchs «Kafka», bei M. O’C. Drurys «Wittgenstein» – einzig aus Gesprächsnotizen oder Gedächtnisschriften kennt und deren Authentizität durch die Verschriftlichung ebenso wie durch Erinnerungsdefizite durchaus fraglich ist? Fakten und Fiktionen verbinden sich in solchen Fällen zu Texten, die man wohl am zutreffendsten «belletristisch» nennt; sie zu lesen ist vielleicht deshalb so faszinierend, weil man bei jedem Zitat den Authentizitätsgrad neu ermessen, das heisst den Anteil des Faktischen am Fiktionalen bedenken muss.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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