I
Nichts Menschliches, also nichts Mörderisches war ihm fremd, er hat es zu seinem Thema gemacht, hat dafür die passende künstlerische Geste gefunden, eine souveräne, bisweilen komische Geste, die ihm wie uns dazu verhilft, mit der absoluten Trostlosigkeit, von der so gut wie alles hienieden – auch das Schöne, und das Wahre ohnehin – durchwirkt ist, irgendwie fertig zu werden. Fertig zu werden dadurch, dass er (welche Kunst!) all das Trostlose geduldig, verlässlich, illusionslos zur Sprache bringt und damit den alltäglichen Horror zumindest vorübergehend transparent, mithin erträglich macht – für zweidrei Stunden Lesezeit, für einen Theaterabend vielleicht.
II
Denn der im Wort gebannte Horror ist so etwas wie ein Jubel. Sieg – durch sorgsame und selbstgenügsame Formgebung – über den trivialen Wahnwitz der Normalität, über die ebenso unsägliche wie sagenhafte Niedertracht, von der Politik und Wirtschaft, aber auch Jedermanns Privatissimum zutiefst geprägt sind. In schmerzhafter Helle und Bildschärfe hat Samuel Beckett diese «ganze Scheisse» noch und noch vorgeführt, hat die Trostlosigkeit prägnant zur Sprache gebracht, perfekt in Szene gesetzt, mit spielerischem Ernst und heiterer Strenge ins Poetische transformiert: Wo Trostlosigkeit so wie bei ihm Form gewinnt und sich behaupten kann als ein Faktum der Kunst, wird sie zum Trost, klärt auf, macht Mut.
III
Wer ausser Beckett hat solches geleistet, wem ausser ihm ist’s gelungen? Geleistet haben es Artaud, Bataille, Céline, Blanchot, Bernhard; aber ist es ihnen auch gelungen? Cioran – diskreter Freund und Bewunderer Becketts, eher jedoch ein melancholischer Dandy denn ein wirklich poetischer Mensch – ist allzu oft dem Schönschreiben verfallen, hat sich der Eigendynamik einer klassisch zu nennenden Rhetorik überlassen und ist so immer wieder abgekommen von jenem fruchtbaren Punkt, wo Verzweiflung und Disziplin ineins fallen. Auch hat Cioran, anders als Beckett, stets die eine oder andre Hintertür offengehalten, um seinem Weltekel eine Berechtigung zu geben (durch den Faschismus) oder ihn zeitweise zu transzendieren (durch die Musik).
IV
Bei Beckett gibt es keine Hintertüren, er entzieht sich nicht, weicht nie aus; er hält sich an seinen – unsern – des Menschen – engen Existenzdistrikt, den er in Form einer Mülltonne, eines Erdhaufens oder eines schlichten Quadrats vergegenwärtigt; ein Entrinnen daraus gibt es nicht, auch nicht in der Hingabe an eine noch so göttliche Fuge von Bach oder an den Appell des Geschlechts. Wo Beckett geht, geht er in sich, er selbst ist die Lücke, wo noch ein Rest von Freiheit klafft, nicht zuletzt die Freiheit von Lüge. Von daher vielleicht das Leuchten, das so gleichmässig von ihm als Person wie auch von seinem Geschriebnen ausgeht, ein sanftes inneres Licht, das nichts andres als die vollkommne Leere ist, sein Glück; und wieder unser Trost.
V
Beckett als finstre Lichtgestalt. Auch die überraschend zahlreichen Photos, die es von ihm gibt, dokumentieren einen strahlenden Abgrund; die hellen Augen, die offnen Hände scheinen (ihn auszusprechen). Was auch immer man über Beckett zu lesen bekommt, es ist mal mehr, mal weniger imprägniert von jener Erleuchtung, die als diskrete unabweisbare Gabe, gewaltlos, den Respekt vor dem Letzten des Menschen – und vielleicht vor dem letzten grossen Menschen überhaupt – erzwingt.
VI
Auf die oft gehörte triviale Grundsatzfrage «Warum schreiben Sie eigentlich?» hat Beckett einst in spätern Jahren, damals bereits Nobelpreisträger, lapidar und hintergründig geantwortet: Bon qu’à ça! Was im Deutschen nur mit explikativer Umschreibung wiederzugeben ist: «Bin für nichts andres gut … zu nichts anderm zu brauchen …» Oder so ähnlich. Durch solche Umschreibung geht aber gerade das Lapidare der Aussage verloren, das, was tatsächlich wie in Stein gehauen dasteht und doch offenbar mit souveräner Geistesgegenwart ohne langes Nachdenken ausgesprochen wurde. Gegenüber seinem Freund Stuart Levy hat Beckett die Frage, wie er «zum Schreiben gekommen» sei, ganz ähnlich beantwortet: «Weil mir nichts anderes mehr übrig blieb.» Diesmal mit dem präzisierenden Zusatz: «Ich hatte kein Geld, also fing ich an zu schreiben … Ich schreibe comme ça.» Keine Rede von Literatur als «Berufung», «Lebensaufgabe», «Mission», «Verantwortung», keine Rede von Kunst als einem besonderen Können oder Sollen.
VII
Becketts Antwort, bon qu’à ça, ist ja eigentlich kein Satz, kein Bekenntnis, sondern – ich schlage diese Lesart vor – ein Name, Bekanntgabe eines Pseudonyms: Mein Name sei Bonkassa! Ich bin der, der zu nichts anderm taugt als zum Schreiben; und allgemeiner noch: Der Autor ist einer, der nur einfach das Wenige tut, was er einigermassen kann, schreiben eben, und der aber vor allem deshalb schreibt, weil er alles andre nicht kann. Wer unter diesem doppelten Vorzeichen schreibt, der tut’s – Beckett selbst hat dafür die Formel geliefert –, um «besser zu scheitern».
VIII
An der Sprache scheitert wohl am besten der, der zu schweigen weiss; der die Schwierigkeit des Schweigens jeder Form von Sprachbeherrschung vorzieht. Schon zur Zeit seines Deutschlandbesuchs 1936, hat Beckett in einem Memo Book notiert, wie absurd das Bestreben sei, in einer andern, einer fremden Sprache schweigen zu wollen: «The struggle to be master of another silence!» So absurd wie ein Schwerhöriger, der Schallplatten höre, oder ein Blinder, der mit einer Leica hantiere. Und in einem Brief aus Hamburg nach London präzisierte er: «I am like a deaf-mute saving up for a tonefilm apparatus. To be really wortkarg one must know every Wort.» Um «wahrhaft wortkarg» zu sein, müsse man «jedes Wort» kennen. Sprachbeherrschung wäre demnach die Voraussetzung wahrhaftigen Schweigens, Voraussetzung dafür, dass Sprachlosigkeit (oder auch bloss Wortkargheit) beredt sein kann. Der junge Beckett hält hier, offenbar unterm Eindruck der zu jener Zeit machtvoll anschwellenden NS-Rhetorik, eine private Alltagserfahrung fest, die gleichzeitig zum Grundimpuls für sein späteres literarisches Schreiben und zur Generalprämisse seiner Poetik wird.
IX
Viel ist inzwischen über das Schweigen «bei» Beckett geschrieben worden, über die Apophatik seiner Sprachkunst, die Negativität seines Welt- und Menschenbilds. Davon soll hier nicht ein weiteres Mal die Rede sein, vielmehr davon, dass – und wie – der Autor seine Wortkargheit diesseits der Literatur, ohne jeden Kunstwillen, vorab im persönlichen Gespräch zur Geltung gebracht und welche Reaktionen er damit ausgelöst hat. Aus den zahlreich vorhandnen, neuerdings von Elizabeth und James Knowlson in Buchform veröffentlichten Berichten und Erinnerungen aus Becketts weit reichendem Bekanntenkreis ist dazu manch ein Beispiel zu gewinnen. Wer auch nur eine marginale Reminiszenz an Beckett mitzuteilen hat, ob enge Freunde oder zufällige Bekannte, allen ist irgendein Satz im Gedächtnis geblieben, der (meist als Antwort auf eine Frage) durch seine unangestrengte Spontaneität, seine lapidare Prägnanz, sein jähes Einleuchten zur Offenbarung wurde. Dazu kommt, dass Beckett, den man aus seinem Werk als kompromisslosen Schwarzmaler menschlicher Gemeinheit und Verlorenheit kennt, im Gespräch stets freundlich, sachlich, höflich bleibt und jeden Zynismus, jede Provokation unterlässt. Trostlosigkeit, Sinndefizit, Verzweiflung gehörten zu Becketts hauptsächlichen künstlerischen Antrieben und bildeten gleichzeitig das unerschöpfliche Reservoir seiner Satz- und Bildfindungen. «Halt an deiner Verzweiflung fest», schrieb er einst an den Schriftstellerkollegen Robert Pinget, «und bring sie für uns zum Singen.»
Die Verzweiflung zum Singen bringen, das ist der Imperativ auch von Becketts eigner Schreibarbeit; in der Schönheit des Gesangs ist auch das letzte Ungemach vollkommen aufgehoben – Form geworden, modulierter Klang. In der paradoxalen Spannung zwischen Lebensüberdruss und Gestaltungsfreude glaubte Pinget «das nobelste und bestgehütete Geheimnis» Becketts zu erkennen. Samuel Beckett selbst hat diese positive Spannung auch als Leser erfahren; an E.M. Cioran schrieb er am 21. April 1969, nach der Lektüre von dessen Buch Die verfehlte Schöpfung: «In Ihren Trümmern finde ich Zuflucht.» Wer solches bezeugen kann, dem wird jeder Kriegsschauplatz und Katastrophenherd zur inneren Heimat.
X
Becketts hochsignifikante Wortkargheit steht naturgemäss in eklatantem Widerspruch zum üblichen Smalltalk wie auch zum permanenten medialen Geschwätz, das die Sprache mehr und mehr in die Inflation treibt, ihre Sinndimension ausblendet, ihre sinnlichen Qualitäten – das «Singen» eben – vergessen lässt.
«Wozu all das?» Mit dieser resignativen Frage hat Beckett mal kleinlaut, mal polemisch so manchen gesellschaftlichen Anlass kommentiert, in dessen Mittelpunkt er stand, und bisweilen galt sie auch kollegialen Tischgesprächen, die sich allzu oft in Eitelkeiten und redseliger Selbstgenügsamkeit erschöpften. Doch allein schon Becketts Präsenz bei derartigen Anlässen scheint das übliche Klatsch- und Tratschbedürfnis relativiert zu haben. Edna O’Brien berichtet und bestätigt: «Becketts wache Aufmerksamkeit bewahrt einen unwillkürlich davor, zu schwafeln, ihn oder sich selbst durch masslosen Stuss zu beschämen oder überhaupt etwas zu sagen, sofern man nicht etwas Wichtiges zu sagen hat.»
XI
Nur am Rand des Schweigens, wenn nicht durch das Schweigen, ist Wichtiges, Wesentliches glaubhaft zu machen. Was Beckett so vielen Zeitgenossen wortkarg vorgemacht hat, gilt auch für sein dramatisches und erzählerisches Werk, erst recht für seine vertrackt-einfältigen Gedichte. Ob Szenen, Bilder oder Sätze – stets handelt es sich hier, wie Peter Brook einst notierte, um «in sich vollkommene» Gestaltungen, die «nichts erklären, nichts vorgeben, symbolisch sind ohne Symbolismus». Poesie denn also, in weitestem Verständnis, die ohne jede Schönrednerei auskommt, die besonders beredt ist dort, wo sie, um Worte ringend, ins kaum noch verständliche Stammeln gerät. Eine Art von Poesie auch, die zugleich eine Lebensweise ist, so dass die Poesie und das Poetische nicht nur als Hervorbringung des Autors Samuel Beckett in diesem oder jenem Werk zusammenfinden, sondern auch – zum Greifen nah und sinnlich fassbar – in der Person Beckett selbst.
XII
Am deutlichsten hat sich diesbezüglich der Schriftsteller Raymond Federman in seinen Reminiszenzen an Beckett vernehmen lassen. Jede Begegnung mit dem langjährigen Freund und Kollegen sei, schreibt Federman, eine «Wortgabe» gewesen: «Was Beckett mir persönlich vermacht hat, ist die Erinnerung an ein paar wenige gesprochene oder geschriebene Sätze, jedesmal wenn wir einander sahen oder schrieben. Ja, jedesmal verliess ich ihn mit einer Handvoll kostbarer Worte, die er mir wie eine zerbrechliche Gabe geschenkt hatte.» Becketts grosse zerbrechlichen Wortgaben bestanden demnach, wie man vermuten darf, aus «ein paar wenigen» sprachlichen Setzungen, die sich jeweils wie ein Händedruck einprägten. Und auch wenn er schwieg, hatte dies etwas zu besagen, zu bedeuten. «Nur Beckett konnte», wie Federman festhält, «schweigen, ohne dass es beklemmend wirkte.» All seinen superklugen Exegeten gegenüber, die Beliebiges – Absurdes wie Erhabenes – in seine Texte hineinzulesen vermochten, blieb Beckett skeptisch; skeptisch auch gegenüber Schauspielern und Regisseuren, die seinen Texten zusätzlich deren Deutung mitgaben: «Ich wünschte nur, sie würden aufhören, mich mehr sagen zu lassen, als ich sagen möchte.»
XIII
Federman hat Samuel Beckett noch kurz vor dessen Tod in Paris besucht, als er in einem ärmlichen Altenheim lebte, umgeben von Menschen, die in ihrer Demenz und Halsstarrigkeit mehr und mehr seinen Bühnen- und Romanfiguren zu gleichen begannen. Trotz zunehmender Schwäche blieb Beckett bis zuletzt tätig. Je weniger er schrieb und las, desto intensiver tat er es; ein paar Worte täglich aufs Papier gebracht, eine Seite täglich gelesen – so intensiv, dass es ihm nach eignem Bekunden «die Augen versengte». Bei seiner letzten Begegnung mit Federman, auf dem Rückweg nach dem gemeinsamen Essen ins Altenheim, blieb Beckett mitten auf der Strasse plötzlich stehn, sagte zu seinem Begleiter: «Erinnerst du dich?» und rezitierte dann auswendig Stéphane Mallarmés Todessonett, das in äusserster Verdichtung «das jungfräuliche, das lebhafte, das herrliche Heute» evoziert und gleichzeitig die «weisse Agonie» ankündigt. Man muss sich das vorstellen. Ein alter hagrer Mann sagt im Strassenlärm ein grosses Gedicht auf, er leiht ihm seine brüchig gewordne Stimme, lässt es für sich sprechen: ein Zitat als Credo und Vermächtnis. Auch eine Form von Wortkargheit. Auch eine Möglichkeit zu schweigen.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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