Brodskydeutsch

Aus verschiedensten Sprachen – vom Polnischen über das Englische bis zum Litauischen – hat der Dichter Joseph Brodsky seit seiner Jugend in grossem Umfang Lyrik übersetzt. Umso auffallender bleibt, dass er nur einen einzigen Text aus dem Deutschen ins Russische gebracht hat – Hans Leips populären Songtext Lili Marleen. Von manchen seiner Freunde und Kollegen weiss man, wie schwer sich Brodsky mit dem Deutschen getan hat. Zu Deutschland und den Deutschen blieb er stets auf Distanz, deutsche Motive begegnen einem in seinem essayistischen und lyrischen Werk nur ausnahmsweise.
Eine solche Ausnahme ist sein grosser Aufsatz über Rainer Maria Rilkes Langgedicht Orpheus. Eurydike. Hermes, das Brodsky nur in englischer Übersetzung zugänglich war und dessen Lektüre ihm gleichwohl zu einem Meisterstück einfühlender Interpretation geriet. Es ist tatsächlich staunenswert, wie hier ohne Zugriff auf den Originaltext ein komplexes sprachkünstlerisches Gebilde erschlossen und neu zum Sprechen gebracht wird. Dass es sich bei der Vorlage um einen Text deutscher Sprache handelt, scheint für Brodsky weniger relevant zu sein als dessen mythologischer Gehalt und die poetische Rede schlechthin, die für ihn «an sich so etwas wie eine Fremdsprache ist – oder deren Übersetzung»; gemeint ist damit eine «übersprachliche Erhabenheit», wo «die Liebe des Klangs zum Sinn» bestimmend ist und nicht die ausserliterarische Bedeutung.
Nun ist es aber keineswegs der elitäre Rilke, sondern der volkstümliche Hans Leip, der dem russischen Jungdichter den Zugang zur deutschen Kultur verschafft hat. Lili Marleen, Brodsky Lieblingslied, steht für die Glitzerwelt des deutschen Films, des deut
schen Schlagers, der deutschen – weiblichen – Stars, von denen Zarah Leander den stärksten Eindruck hinterliess, so stark und so nachhaltig, dass sie viel später als moderne Referenzgestalt in die Zwanzig Sonette an Mary Stuart einging. In einem autobiographischen Versuch über seine Kindheit und Jugend (Kriegsbeu­te) hat Joseph Brodsky die Begeisterung zu vergegenwärtigen und zu erklären versucht, in die er durch die desolate Hinterlassenschaft des «faschistischen Erzfeinds» nach dem Grossen Vaterländischen Krieg versetzt wurde. Allein schon deutsche Marken- und Firmennamen wie «Junkers» oder «Focke-Wulf», «Krupp» oder «IG Farben» waren für ihn wegen ihres ungewöhnlichen Klangs eine akustische Sensation, und Fundstücke aller Art aus der Okkupationszeit, aber auch Trophäen aus Gedenkstätten und Kriegsmuseen führten dem neugierigen Schüler Dinge vor Augen, die an Qualität und Design alles übertrafen, was die siegreiche Sowjetunion zu bieten hatte – perfekt verfertigte militärische Utensilien wie etwa ein deutsches Marinefernglas von Zeiss, eine Offiziersmütze mit blitzendem Abzeichen oder ein Kurzwellenradio von Philips regten die Phantasie und heimliche Bewunderung für den einstigen Kriegsgegner ebenso nachhaltig an wie «die schwarz lackierten Kotflügel der überlebenden deutschen BMW- und Opel-Limousinen». Und alles war durchwirkt und getragen von der erotischen Aura «germanischer» Frauen vom Typ der Marlene Dietrich oder Ingrid Bergman, die den pubertierenden Jungen – Brodsky selbst bekennt es – für immer auf das weibliche Idealbild der platinblonden nordischen Schönheit festgelegt haben.
Doch in der Folge verblasste für Brodsky das frühe deutsche Faszinosum in dem Mass, wie er späterhin zu erkennen glaubte, dass die offizielle Sowjetrhetorik durch den Jargon marxistischer Traktate «stark germanisiert» und zutiefst «verdorben» war. Was einst den Zauber des Fremden und Unverständlichen ausgemacht hatte, kehrte nun wieder in Form eines undifferenzierten, hölzern wirkenden Herrschaftsdiskurses, der als präpotente Fremdsprache («Parteichinesisch») das lebendige Russisch zu lähmen begann.
In einem vergessnen, kurz vor seinem Tod in Warschau publizierten Interview hat Brodsky diese massive sprachliche Überfremdung auf zwei hauptsächliche Prämissen zurückgeführt. Zum einen – ganz allgemein – auf die traditionelle, durchweg ambivalente Bewunderung der Russen für den deutschen Ordnungs- und Qualitätssinn, die schon die grossen Reformen Peters des Grossen und später die enthusiastische Rezeption des Hegelschen Systemdenkens beflügelte; zum andern – speziell – auf die deutschen Rückverbindungen Lenins, der familiäre Bande nach Deutschland hatte und für den das Deutsche gewissermassen die Vatersprache war. «Wenn also Lenin seinen Marx liest, dann liest er das, was ihm ohnehin nahe ist. Er liest etwas Eigenes», meint Brodsky. «Dazu kommt der russische Minderwertigkeitskomplex. Wir hatten ja nie eine eigene politische Philosophie. Niemand bei uns hat ein Kapital verfasst. Das Kapital ist deutsch geschrieben. Für Lenin also in seiner eigenen Sprache.» Und diese germanisch imprägnierte Sprache wurde nach der Machtergreifung der Bolschewiki zum Newspeak des Sowjetregimes und zum Jargon der marxistisch-leninistischen Staatsideologie. Dass Joseph Brodsky als innovativer Dichter diese Sprachbegradigung nicht akzeptieren mochte, liegt auf der Hand; dass er aus Protest dagegen nie wieder einen produktiven Zugang zur deutschen Kultur hat finden können, bleibt zu bedauern.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00