Nebst mehreren starken Romanen – Auf Schloss Argol (Au Châ- teau d’Argol, 1938), Das Ufer der Syrten (Le Rivage des Syrtes, 1951), Die engen Wasser (Les eaux étroites, 1976) u.a.m. – hat der französische Erzähler und Essayist Julien Gracq auch diverse Sammlungen vermischter Kurzprosa vorgelegt, darunter die beiden Bände seiner Initialen (Lettrines, 1967; 1974), die auf Deutsch unter dem abgeänderten Titel Witterungen zu haben sind.
Gracqs Initialen präsentieren sich als ein Konglomerat von thematisch disparaten, chronologisch ungeordneten Texten, die bald Reisen und Lektüren zum Gegenstand haben, bald Träume, Filme oder Erinnerungsbilder. Zusammengehalten werden die scheinbar wahllos aufeinanderfolgenden Prosastücke durch die stets gleichbleibende Optik des Autors, die tatsächlich allem und jedem – ob dem Schritt eines Pferds oder dem Rhythmus eines Satzes, ob der Struktur eines Walds oder einer Grossstadt – die gleiche Gültigkeit verleiht, indem sie Nahes und Fernes, Besonderes und Allgemeines, Bedeutsames und Triviales, Gegenwärtiges und Gewesenes, Künstliches und Naturhaftes unterschiedslos registriert. Für Gracq bleibt die individuelle Wahrnehmung jeglicher auf den Begriff gebrachten Wahrheit vorgeordnet – wahr ist, was sich seiner Wahrnehmung hier und jetzt erschliesst, sei’s im kindlichen Spiel mit selbst gebastelten Schachfiguren, sei’s bei einer kurzen Kampfpause im Krieg, sei’s mit voyeuristischem Blick auf eine schöne Unbekannte, die sich am menschenleeren Strand – allein vor dem Meer und allein für das Meer – schamlos in den Hüften wiegt.
Das vorrangige Interesse des Autors gilt der möglichst neutralen, möglichst genauen, dabei möglichst dichten Beschreibung. Handlungsverläufe, Intrigen, Reflexionen kommen in den Initialen, wenn überhaupt, bloss ansatzweise vor; seine Texte können deshalb auch nicht resümiert, nur zitiert werden. Wie etwa diese Passage über die landwirtschaftlich genutzte Insel Batailleuse: «… üppige, hochstielige Pflanzen, Mais, Tabak, Korbweide, Hanf, deren kleine grüne Hochwälder den berauschenden, betäubenden Duft in den Wind verströmen. Der schöne Pelz der Weiden, der die Insel noch einmal mit einem grauen Fellbesatz säumt. Da und dort ungeschnittene, wieder wild gewordene Weinstöcke, die noch klettern und sich um die Ulmen ranken. Eine seltsame Flora panzert Böschungen, auf die das Hochwasser Samen von weither, aus der saftigen Auvergne und von den Hängen des Velay herangeschwemmt hat. Der sandige und lockere, rasch trocknende Boden der sich reizvoll zwischen den Weiden durchschlängelnden Wege, die aufgeblühten Bauernhöfe auf ihren befestigten, dem Hochwasser standhaltenden Anhöhen: hier gibt es überall schöne Blumengärten, als hätte sich der Mensch verpflichtet gefühlt, dieser liebenswerten Natur nachzueifern: Geranien, Dahlien, Petunien, Stockrosen, ein Ziergarten, der sich dann auch noch im zarten Laub der Spargeln auf ihren Sandbeeten im Gemüsegarten fortsetzt. Und über das Gekräusel der Kopfweiden hinweg von weitem sichtbar, überall, in Reihen, in massiven Vierecken, das schöne raschelnde Segel der Weiden, ihr wunderbares Auflodern im Oktober, das die ganze Insel in eine Gauguinlandschaft verwandelt und breitwürfig das helle gelbe Münzgeld der kleinen Karo-As-förmigen Blätter über die trockenen Wiesen sät.» Usf.
Bisweilen scheint bei Gracq der junge Flaubert solche Naturschilderungen mitzubuchstabieren, doch die Eloquenz und Eleganz, die man aus dessen Novelle November kennt, sind hier nur zu ahnen, da Gracq seinen Stil durch rhythmische und klangliche Brechungen immer wieder aufrauht, ihn auch gern – nicht immer zu dessen Vorteil – in unterschiedlichste Vergleiche ausfransen lässt (hier: «Gauguinlandschaft»), dabei aber jede Schönschreiberei zu vermeiden sucht.
Motive und Themen, Gegenstände und Personen sind für Gracq nur insoweit relevant, als sie ihm die Entfaltung seiner singulären Beschreibungskunst ermöglichen. Das Erzählen verdichtet sich bei ihm zur schnörkellosen Bestandsaufnahme und findet gleichzeitig Ausdruck in expansiven Satzgebilden von höchster Komplexität bei grösster architektonischer Klarheit. Alles kristallisiert sich in detailreichen sprachlichen Momentaufnahmen, die an Präzision und Leuchtkraft, an Tiefenschärfe und Authentizität jede bildliche Darstellung übertreffen.
Die Dichtigkeit der Gracqschen Beschreibungskunst ergibt sich daraus, dass das Beschriebne im Akt des Beschreibens immer auch bedacht wird – durch Gedanken nicht überzogen, vielmehr gesättigt, zudem angereichert durch Assoziationen, Reminiszenzen und Vergleiche aller Art. Daraus ergibt sich so etwas wie ein Anwesenheitseffekt, die Illusion unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung dessen, was nicht da, nur benannt ist.
Tatsächlich weiss Gracq, nachhaltig geprägt von der Ästhetik des Surrealismus, den Vergleich so einzusetzen, dass er Zeiten und Räume, reale und mögliche Welten mit Leichtigkeit transzendiert; dass er ohne Gleichmacherei alles mit allem verbindet und eben dadurch umso deutlicher die Differenzen, das Fremde im Eignen, das Eigne im Fremden hervortreten lässt. Menschen, Objekte, Wörter gewinnen eine zusätzliche Sinn- und Daseinsdimension, weil sie immer auch so «wie» etwas andres sind: Kopenhagen kann punktuell «wie» Lübeck, aber auch «wie» Lissabon sein; gewisse Dörfer in Zentralfrankreich sind «wie» gewisse Dörfer in Nordamerika; New York ist eine Stadt «im Sinne Baudelaires», die Upper Bay scheint «à la» Turner erleuchtet zu sein; der Atlantik kann lachen «wie» das Kaspische Meer in einer Erzählung von Maksim Gorkij, und Schweden ist dazu verurteilt, «abolut modern» zu sein, «wie» Rimbaud es in seiner Saison en enfer gefordert hat. Aus dieser Art der charakterisierenden Beschreibung ergibt sich ein stereoskopischer Effekt, der die beschriebnen Gegenständlichkeiten – Orte, Dinge, Szenen – als mehrdimensionale Denkbilder zur Erscheinung bringt.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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