Obwohl ich fast täglich für eine gute Morgenstunde im hiesigen Wald unterwegs bin, fällt es mir schwer, in der Natur zu sein (in der Natur zu sein) oder gar in sie ein-, in ihr aufzugehn. – Nein. – Ich geh doch meist mit gesenktem Kopf durchs Gelände, geh eher meinen Gedanken als diesen Wegen nach, sehe zu, wie zwischen meinen Schuhen die Erde als Abgrund sich auftut, wie aus Rad- oder Hufspuren, aus Tierkot und Totholz urtümliche Landschaften entstehn, in denen sich Armeen von kleinstem Getier – Würmern, Insekten – rastlos regen und Unkräuter aller Art sich zu dichten Dschungeln zusammenschliessen.
Da geh ich drüber hin, verfolge diese oder jene Idee, hänge diesem oder jenem Problem nach, versuche aus meinen Schritten den Rhythmus für diesen oder jenen Satz zu gewinnen; aber die Natur bleibt ein kulissenhafter Raum, demgegenüber ich, obwohl ich doch regelmässig in ihn eindringe, immer «draussen» bin und den ich durch meine Gegenwart gleichsam überfremde.
Welchen Grund mag diese bleibende Entfremdung haben? Sie konkretisiert sich für mich, unter anderm, darin, dass ich kaum etwas in der Natur – ob Tier oder Pflanze, Wolke oder Stein – namentlich präzis bezeichnen kann. Zwar kenne und verwende ich zahlreiche diesbezügliche Begriffe, weiss aber in den meisten Fällen nicht, wofür sie stehn. Dass die Esche ein Baum, die Äsche ein Fisch ist, dass es, auch in meiner Wohngegend, Alpenveilchen und Bergnarzissen gibt, ist mir bekannt, doch weder eine Äsche noch ein Alpenveilchen würde ich der Anschauung nach erkennen, könnte dazu nur «Fisch» oder «Blume» sagen und habe auch keinerlei Vorstellung von deren Lebensart, deren Laich- oder Blütezeit usf. Da ich von der Natur nur ein paar hundert Namen kenne, nicht jedoch deren reale Entsprechungen, kann wohl ich sie ansprechen, nicht aber sie mich. Ist es das, was mich trennt von ihr?
Ein Schmetterling mittlerer Grösse, mit samtschwarzen, hochweiss gepunkteten Flügeln hat mir heute früh, unentwegt auf Kniehöhe mich umgaukelnd, über zwei-, dreihundert Meter das Geleit gegeben. Ich sah an mir hinunter, bewunderte die Artistik der Flugbewegung, staunte über deren Unangestrengtheit und Lautlosigkeit, beobachtete, wie der Schmetterling (den ich nun in Ermangelung seines Namens einfach «mein Schmetterding» nannte) immer dann, wenn ich im Gehn einhielt, sich in den wogenden Baumschatten eine kleine Lichtinsel suchte, um seinerseits einzuhalten, die Flügel zur Sonne hin auszubreiten, sie ganz langsam auf und nieder zu schwenken und dabei mit den auffallend langen Fühlern, an deren Spitze wie ein winziger Honigtropfen ein gelbes Kügelchen bebte, in der Luft herumzutasten.
Da mir für den Schmetterling kein vorgegebner Name zur Verfügung stand, der ihn einer bestimmten Art und Gattung zugeordnet hätte, blieb er für mich einfach «der Schmetterling», wurde gewissermassen zum Schmetterling an sich, zugleich aber auch zu «meinem Schmetterling», und eben dadurch löste er sich aus seiner Naturhaftigkeit, wurde für kurze Zeit zu einem Teil meines Lebens oder auch bloss meines Lebenstraums.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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