Wenn Aleksandr Puschkin Gedichte «aus Lamennais» oder Ossip Mandelstam solche «aus Petrarca» schrieb, sollte dies, russischer Übersetzungstradition entsprechend, als ein sekundärer, aber gleichwohl originärer Schreibakt gelten, der seinen ersten Impuls nicht der Inspiration, also der «Muse», dem «Genius» verdankte, sondern einem fremdsprachigen Prätext. An dessen Leitfaden konnte dann ein Gedicht entstehn, das Original und Nachdichtung in einem war, mithin ein nachträgliches Original oder ein originaler Nachtrag.
Dieses unbefangne, jede philologisch beglaubigte Übersetzung konterkarierende Verfahren führt letztlich nichts andres vor Augen als die Entstehungs- und Funktionsweise von Poesie schlechthin. Denn immer erwächst Poesie aus Poesie, immer ist sie Nachtrag und Original zugleich. Nur wer lesen kann, wird auch schreiben können; nur wer gelesen hat, wird in der Lage sein, zu schreiben, und schreiben heisst, am je Gelesnen weiterschreiben, es gleichermassen zu bereinigen (durch Auslassungen) und anzureichern (durch Zusätze).
Am Beispiel eines Sonetts von William Shakespeare und dessen Migration durch zwei verschiedne Zielsprachen (Russisch > Deutsch) möchte ich die nachträgliche Originalität wie auch die originale Nachträglichkeit der jeweiligen Übersetzung aufzeigen. Die hier gewählte Versuchsanordnung besteht darin, einen weithin bekannten Gedichttext anhand einer russischen Nachdichtung von Boris Pasternak in einem zweiten Übertragungsschritt – als Übersetzung der Übersetzung – ins Deutsche zu bringen. Die deutschsprachige Fassung wird also auf dem Umweg über eine dazwischengeschaltete Fremdsprache, in diesem Fall das Russische, erarbeitet. Dabei gehen naturgemäss sämtliche Lautqualitäten des Originals, vorab die Endreime, aber auch manche Wortspiele, bildhafte Ausdrücke, Redensarten und nicht zuletzt die zitathaften (intertextuellen) Anspielungen verloren. Solche Verluste werden in der poetisch instrumentierten, semantisch offeneren Zweitübersetzung aus dem Russischen zumindest teilweise kompensiert durch analoge deutschsprachige Strukturbildungen, die neu erarbeitet werden mussten und deren Einbringung ins Gedicht die Textbedeutung – nach dem ersten Transfer vom Englischen ins Russische – ein weiteres Mal erheblich modifiziert hat.
Was bei dieser transversalen übersetzerischen Migration an «Form» und «Inhalt» eingebüsst beziehungsweise gewonnen wird, sei beispielhaft belegt durch das Sonett LXVI, das ich hier als englisch-russisch-deutsches Dreiblatt entfalte:
William Shakespeare
[LXVI]
Tired with all these, for restful death I cry:
As to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimmed in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,
And gilded honour shamefully misplaced,
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgraced,
And strength by limping sway disablèd,
And art made tongue-tied by authority,
And folly, doctor-like, controlling skill,
And simple truth miscalled simplicity,
And captive good attending captain ill.
aaaTired with all these, from these would I be gone,
aaaSave that, to die, I leave my love alone.
LXVI (Interlinear E>D) – Müde von all dem, nach ruhevollem Tod ich rufe: / Wie zu schauen den Wert eines geborenen Bettlers, / Und ärmstes Nichts herausgeputzt in Fröhlichkeit, / Und reinsten Glauben unglücklich verleugnet, / Und goldene Ehre schändlich an den falschen Ort getan, / Und jungfräuliche Tugend krud prostituiert, / Und rechte Vollkommenheit fälschlich in Verruf gebracht, / Und Kraft durch schlappes Schwanken ausser Kraft gesetzt, / Und Kunst mundtot gemacht durch Obrigkeit, / Und Torheit, die, Doktoren gleich, das Können überwacht, / Und schlichte Wahrheit als Schlichtheit geschmäht, / Und eingeschlossenes Gutes wartend dem übermächtigen Übel. // Müde von all dem, wäre ich von all dem fortgegangen, / Ausser dass, zu sterben, ich liesse meine Liebe allein.
Boris Pasternak
[LXVI]
Измучась всем, я умереть хочу.
Тоска смотреть, как мается бедняк,
И как шутя живется богачу,
И наблюдать, как наглость лезет в свет,
И честь девичья катится ко дну,
И знать, что ходу совершенствам нет,
И видеть мощь у немощи в плену,
И вспоминать, что мысли заткнут рот,
И разум сносит глупости хулу,
И прямодушье простотой слывет,
И доброта прислуживает злу.
aaaИзмучась всем, не стал бы жить и дня,
aaaДа другу трудно будет без меня.
LXVI (Pasternak, interlinear R>D) – Gepeinigt von allem, will ich sterben, / Das Ungemach zu sehen, wie der Bettler sich abrackert, / Und wie witzelnd daherlebt der Reiche, / Und vertrauen, und hereinfallen, / Und beobachten, wie die Dreistigkeit ins Licht kriecht, / Und die jungfräuliche Ehre gleitet zum Grund, / Und wissen, dass es ein Fortkommen für Vollkommenheit nicht gibt, / Und Macht sehen in Gefangenschaft von Ohnmacht, / Und eingedenk, dass Gedanken den Mund stopfen, / Und der Verstand erduldet der Torheit Hohn, / Und Aufrichtigkeit gilt als Einfalt, / Und Güte dient dem Bösen zu. / Gepeinigt von allem, wollte ich nicht einen Tag mehr leben, / Doch dem Freund wird’s schwer sein ohne mich.
Felix Philipp Ingold
[LXVI]
Mein Schmerz sprengt jedes Mass, ich will den Tod.
Die Not des Bettlers ist auch meine Not,
Und jener Satte dort verlacht das Brot,
Und wer wem traut, ist von Verrat bedroht,
Und schaut – was dreist und geil ist, kriecht ans Licht,
Und Mädchenehre wird zum schlechten Witz,
Und wisst – was gut und schön ist, gilt hier nichts,
Und als Gewalt zeigt Schwäche ihr Gesicht,
Und denkt daran – die Wahrheit bleibt im Mund!
Und nackter Stumpfsinn spottet dem Verstand,
Und Ehrlichkeit lohnt nicht, kommt auf den Hund,
Und Güte spielt dem Übel in die Hand.
aaaMein Schmerz sprengt jedes Mass, ich mache Schluss,
aaaAuch wenn ich meiner Liebsten wehtun muss.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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