… an meinen zwergwüchsigen Lehrer Gerhardt, der stets am Stock ging und das eine Bein mit einem komischen Schlenker nachzog. Um der Schuldisziplin Genüge zu tun, musste er hin und wieder Strafgericht halten – dieses bestand darin, dass er den ertappten Missetätern eine oder mehreren «Tatzen» verabreichte, nämlich Hiebe mit einem langen Bambusrohr auf die ausgestreckte offene Hand. Wobei der kleine Mann, nicht viel höher gewachsen als seine Primarschüler, den Stock hoch in die Luft hob, um ihn dann pfeifend auf die Fingerspitzen sausen zu lassen. Wenn er stattdessen hin und wieder den Daumen oder die Innenseite des Handgelenks traf, schien er selbst, nicht anders als der gezüchtigte Schüler, zusammenzuzucken.
Als wieder einmal ich dran war, verfehlte er mit dem Stock meine Rechte und schlug sich hart aufs Knie. Sekundenlang stand er mit hängenden Armen vor der Klasse, dann brach er in ein fürchterliches, nicht enden wollendes Lachen aus, das uns erschreckte und amüsierte. Schliesslich humpelte er zum Lehrerpult zurück und setzte den Unterricht mit gewohnt sanfter Stimme fort.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
Schreibe einen Kommentar