Lese z.Z. wieder Autobiographisches, Intimistisches von Stendhal, den Brulard, den Egotismus, die Reiseberichte – herrlich ungeschlachte Prosa, graphomanische Ich- und Ruhmsucht, umsichtige, fast ängstliche Planung des literarischen Nachlebens in der Überzeugung, dass alles von ihm Verfasste erst – frühstens – in hundert Jahren lesbar sein und adäquat eingeschätzt würde; ähnlich Stendhals jüngerer Zeitgenosse Cyprian Norwid, polnischer Dichter von Format, der zu Lebzeiten ohne jede Anerkennung blieb und deshalb über die Köpfe zweier Generationen hinweg nur «für die Enkel» in die Schublade produzierte, auch er überzeugt davon, dass er dannzumal verstanden, geschätzt werden würde; ebenso rücksichtslos hat Marina Zwetajewa an ihrer Epoche vorbei und über sie hinaus gedichtet in der hochgemuten Erwartung, nach ihrem Tod erst eigentlich zu produktiver Wirkung zu kommen. Hoffnungen, Erwartungen dieser Art waren im 19., 20. Jahrhundert durchaus noch realistisch, haben sich auch – Emily Dickinson, Gerard Manley Hopkins, Andrej Platonow, Robert Musil sind Beispiele dafür – weitgehend erfüllt. Heute ist in dieser Hinsicht kein Verlass mehr auf die Zukunft; die Nachgebornen werden nicht besser lesen als die Heutigen, sie werden Literarisches womöglich nicht mehr lesen wollen oder es überhaupt verlernt haben. Was an starker Dichtung heute nicht verstanden, nicht akzeptiert wird, wird auch in fernerer Zukunft nichts gelten; eher liesse sie sich – im Konditional – an die Vergangenheit anschliessen, an jene auch schon ziemlich fernen Zeiten, als Literatur noch mitgelesen wurde von Kritikern wie Alain, Benjamin, Curtius, Jakobson, Palinurus, Tynjanow; und … aber vielleicht sollte man sich nun eben abfinden damit, dass das, was in literarischem Zusammenhang noch Zukunft hat, die Vergangenheit ist.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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