Nach Lew Schestow ist wahre Erkenntnis so viel wie sinnliche Erfahrung plus Kraft des Glaubens. Vielleicht hat er so etwas wie eine vorbegriffliche Ästhetik, die zugleich eine Ethik wäre, im Sinn.
Dominantes Organ solcher Erkenntnis ist das Ohr. Hören – die gewaltlose Art, wahrzunehmen, die Wahrheit zu vernehmen. Dem Gehör gehören, sagt Schestow, «die gleichen Rechte wie der Intuition». Das Wesentliche – das, was wirklich wichtig und notwendig ist – könne nicht verstanden, nicht gesehen, nur gehört werden: «Die Geheimnisse des Seins werden demjenigen leis ins Ohr geflüstert, der, wo’s gefragt ist, ganz Gehör zu sein vermag.» Die Wahrheit als Ohrwurm.
Wer «ganz Gehör» ist, muss ganz blind geworden sein. Einzig der Blinde, der zu hören versteht, kommt zu wahrer Einsicht, wird sehend im tiefsten Grund der Nacht.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
Schreibe einen Kommentar