Gerächt

In einem Gespräch auf Espace 2 erläutert René Girard anhand eines neuen Buchs seine alte These vom Sündenbock, dem die Mehrheit der Normalverbraucher eine – ihre – kollektive Schuld aufbürdet, um sich ihrer zu entledigen, ein in der Menschheitsgeschichte stetig sich wiederholender, immer wieder anders in Szene gesetzter Vorgang, der nach Girard auf dem mimetischen Begehren als einer anthropologischen Konstante beruht. Auf diese Konstante führt Girard alle möglichen Spielarten privaten und öffentlichen Verhaltens zurück, das Opfer wie den Krieg, die Eifersucht wie den Stolz, den Hass wie den Altruismus, die Schauspielerei wie das Doppelgängertum, den Gottglauben wie den Atheismus und vieles andre mehr. Tatsächlich bietet seine Theoriebildung eine Vielzahl von Ansätzen zur Erklärung der Welt, in der wir zu leben, die wir zu verstehn und zu bewältigen haben, die sich aber, angesichts unsagbarer menschlicher Niedertracht und Genialität, der Erklärung und vollends der Rechtfertigung weitgehend entzieht. Girard scheint, im Gespräch ebenso wie in seinen Schriften, von der Hoffnung, fast schon von der Überzeugung beseelt zu sein, aus seiner Grundthese so etwas wie eine Weltformel gewinnen zu können. Ich kann die Konsistenz seiner Argumentation, die ins Theologische und Mythologische, ins Gesellschaftliche und Politische ausgreift, nicht beurteilen, erfahre sie aber in unterschiedlichsten Problemzusammenhängen gleichermassen als erhellend und anregend. Am Beispiel des eitlen, neidischen, wehleidigen, aber auch herrischen, letztlich also ganz normalen «Untergrundmenschen» bei Fjodor Dostojewskij macht Girard deutlich, weshalb und in welcher Weise das mimetische Begehren auf den andern übertragen wird, der man sein möchte, den man zumindest imitieren will, ohne ihm jemals gerecht werden zu können, weshalb man sich früher oder später an ihm (das Wortspiel funktioniert nur im Deutschen:) gerächt haben muss. Permanent ist der Mensch, so lässt sich am Beispiel von Dostojewskijs Antiheld erkennen, mit seinen Gegnern beschäftigt, er kritisiert, beschimpft, bekämpft sie, seit Kain und Abel, mit allen Mitteln von Mobbing bis Mord, und doch imaginiert er sich unterm Zwang seines mimetischen Begehrens insgeheim an deren Stelle. Beispiele für solches Begehren sind der Juden- und der Vaterhass, aber auch – von Girard bisher nicht angesprochen – die künstlerische Einflussangst, die sich in der Abwehr allzu starker Vorbilder manifestiert, oder auch, umgekehrt, die Angst vor nachrückenden Konkurrenten, von denen man die Verschattung der eignen Vorbildhaftigkeit zu befürchten hat.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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