I
Ich habe eine schwierige, fast schlaflose Nacht hinter mir, bin wohl einen guten Kilometer auf und ab gegangen in der Wohnung, erst fluchend, dann ziemlich verzweifelt, schliesslich mich beruhigend und plötzlich unterwegs zu einem Gedicht. Was raubt Schlaf. Die ersten paar Wörter ziehn Klangverwandtes an – taub, Staub, haust, Haut u.ä.m. Beim Gehen baut sich mit sprunghafter Allmählichkeit Wort für Wort, dann Vers für Vers ein kleiner Text auf, den ich in seiner ständig wechselnden Gestalt zu memorieren versuche. Irgendwann, zwischen drei und vier Uhr früh, setze ich mich hin, schreibe das im Schreiten und Sprechen komponierte Gedicht auf, schlafe darüber ein, erwache wieder, weil mich die Schreibtischkante in die Rippen drückt, lese nach, was dasteht, lese das Gedicht, als hätte jemand (oder etwas) anderes es aufgeschrieben: «Galiläa» –
Dort huscht ein Volk und aber
haust es in Gluten.
Heisst Wüste was Heim hat
und wächst es im Gehn. Was einzig
taugt zum Stürmen. Packt
den Staub schwupp so wie Biene
und Schleimhaut arabisch.
Wie Taube nickt’s
und wieder nichts statt endlich Unterschied.
Rauben Schlaf vor lauter
unerhörter Stille. Während jenseits
– weit von wo –
der Jordan tobt und tauft und neue Namen
wehn herüber.
Wen zu nennen. Die Bedeutung
frisch getrübt und
wunderbar bis Ostern nichts
als bäh!
Wie es zu der biblischen Szenerie kommt, weiss ich nicht, es hat sich so, mit der Entstehung des Texts, ergeben. Bestimmend war sicherlich das Wort rauben, raubt, dazu die Vorstellung von Haus und Heim, Wörter, die wohl die Doppellaute –au- und –ei- aufgerufen und damit das Klangkolorit des Gedichts festgelegt haben. Der Schlaf, mithin das Wort für das, was ich in der Wirklichkeit dieser Nacht nicht finden konnte, scheint das Wort Schaf evoziert zu haben, dieses wiederum ist aber als solches nicht in den Text eingegangen, sondern hat sich darin niedergeschlagen, hat darin sein Spur hinterlassen in Form des auslautenden bäh! – einer sprachlichen Klangnachahmung, die ich, so weit ich mich erinnere, nie zuvor in einem Gedicht verwendet hatte. So weit, so gut.
II
Nachdem ich in der Früh, noch ziemlich erschöpft und schon etwas verspätet, einigermassen überstürzt losgefahren war, geriet ich schon nach wenigen hundert Metern mitten in der Ortschaft zwischen Post und Bäckerei in eine Rücken an Rücken sich vordrängende Schafherde, die angeführt war von einem gross gewachsnen, rotgesichtigen Hirten mit hohem Stab und die vorangetrieben und zusammengehalten wurde von zwei unablässig bellenden Hunden. Das kleinlaute bäh! aus meinem Gedicht kam da plötzlich – ich hatte anhalten müssen und sogleich war mein Auto eingeschlossen von der blökenden Herde – als vielfaches Echo aus der Wirklichkeit zurück. So wenig, wie ich je zuvor das Wörtchen bäh! gebraucht hatte, war mir je auf der Strasse eine Schafherde begegnet. Zufälliges Zusammentreffen? Oder werden Ereignisse tatsächlich hervorgerufen statt bloss stattzufinden?
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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