Insgesamt zwölf Bände umfasst Stéphane Mallarmés Korrespondenz; doch der dunkle Dichter war, ungeachtet solcher Quantität, kein grosser Briefeschreiber. Wohl gibt es eine Reihe von längern, sorgfältig ausformulierten Schriftstücken, manche davon werden als poetologische Grundsatzerklärungen häufig zitiert, gemeinhin aber ist das, was Mallarmé seinen Adressaten mitzuteilen hat, von der Aussage her trivial – eine Einladung, ein Dank, eine Gratulation, eine Beileidsbekundung, eine Rückfrage – und beansprucht nur wenige Zeilen. Über viele Jahre hin bestimmen solch alltägliche Billets den Fortgang und Rhythmus von Mallarmés weitläufigem Briefverkehr. Man könnte bald schon das Interesse daran verlieren, aber unweigerlich gerät man – gerate ich – unter das Faszinosum der Form. Denn auch die kürzesten, bloss konstatierenden Mitteilungen sind derart formvollendet in Sätze gefasst, dass man sie, gerade auch im Kontrast zu ihrem prosaischen Inhalt, für Gedichte, zumindest für Gedichtentwürfe halten könnte. Selbst das, was sich zunächst klischeehaft ausnehmen mag, vorab die Stilistik der Dankes- und Grussformeln, erweist durch subtile Abweichungen und Eigenheiten bei näherm Hinsehn als ein unverwechselbar individuelles Sagen von höchster Formstrenge. Mallarmé scheint jede Gelegenheit (und auch jede Ungelegenheit) zum Anlass für ein sprachliches Exerzitium – oder ein Experiment – zu nehmen und ist bestrebt, beliebige alltagsweltliche Banalitäten in aufwändigen, präzis gearbeiteten rhetorischen Figuren aufgehn zu lassen. Ob er der Frau eines Freunds zu dessen Tod, einem Sonntagsdichter zu dessen jüngstem Manuskript oder einem Künstler zu dessen aktueller Ausstellung schreibt, fast durchweg wird der Anlass des Geschriebnen durch die Kunst des Schreibens überblendet. Man könnte diese Art von Kommunikation für zynisch halten, sich fragen, ob Mallarmé das Interesse, das Lob, den Dank, das Mitleid, dem er mit unnachahmlicher Perfektion und Eleganz in ein paar wenigen Satzlängen Ausdruck gibt, denn auch empfunden oder wenigstens gemeint habe. Oft hat er es, denke ich, weder gemeint noch gar empfunden. Wenn Mallarmé auf eine Vielzahl unbedarfter Texte zeitgenössischer Autoren mit hoher Anerkennung und vollkommner Höflichkeit in Briefform reagiert, schliesst allein die Tatsache, dass und wie er es tut, jeden Zynismus aus. Formlose Höflichkeit, formschwache Anerkennung sind gleichermassen unglaubwürdig. Höflichkeit an sich ist eine Form von Anerkennung. Nicht auf die Authentizität des Gesagten kommt es hier an, nicht darauf, ob Lob oder Mitleid ehrlich gemeint sind, sondern darauf, dass Emotionen wie Mitleid und Lob durch angestrengten Formwillen, und nicht bloss als spontaner, mithin ehrlich wirkender Ausdruck glaubhaft gemacht werden. Mallarmé gelingt es in seinen Briefen, das ästhetisch Gute als das ethisch Schöne durchzusetzen; sein Dichtertum gewinnt dadurch eine zusätzliche, noch kaum erschlossne Dimension.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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