Trotz seiner oftmals geäusserten Abscheu vor dem aktuellen Literaturbetrieb und seiner offenkundigen Verachtung für das Metier der Literaturkritik hat Vladimir Nabokov es sich nicht nehmen lassen, hin und wieder in die Niederungen des Tagesfeuilletons abzusteigen, um den einen oder andern Rezensenten, von dem er sich zu Unrecht angegriffen oder auch bloss falsch verstanden fühlte, scharf abzufertigen, bisweilen auch, um den allgemeinen literarischen Geschmack und naive, auf Wiedererkennen angelegte Lektüreerwartungen anzuprangern. In Nabokovs Privat- und Leserbriefen, in seinen zahlreichen Interviews, seinen Vorlesungsskripten sowie in manchen seiner Erzählwerke gibt es für diesen auktorialen Despotismus Beispiele zuhauf. Nicht immer macht Nabokov bei der sarkastischen Abkanzlung seiner wirklichen und vermeintlichen Verächter eine gute Figur, oft wirkt er in seiner Rechthaberei kleinlich, oft auch steht sein polemischer Furor in keinem vernünftigen Verhältnis zu dessen Anlass und droht ins Lächerliche zu driften.
Zwei Nabokovsche Statements dazu, wie Literatur zu funktionieren oder eben nicht zu funktionieren hat, will ich hier aufs Geratewohl herausgreifen. In seiner Vorlesung 311–312 über Meister europäischer Prosa liess er an der Cornell University apodiktisch verlauten: «Stil und Struktur sind die Hauptsache (essence) an einem Buch; grosse Ideen sind für die Gosse (hogwash).» Nabokov bekennt sich damit explizit zu einem literarischen Formalismus, für den alles «Inhaltliche» – persönliche Erfahrungen oder historische Ereignisse ebenso wie grosse Ideen – zurücktritt hinter die Faktur des Werks, welche die «Aussage» überhaupt erst ermöglicht und hervorbringt.
Dass Nabokov, in solchem Verständnis, Einspruch erheben muss gegen jede Art von «realistischer» Erzählkunst, die sich an der Wirklichkeit abarbeitet, sich deren Darstellung zur Aufgabe macht, ist weiter nicht verwunderlich. In seinem späten Textband Strikte Meinungen (Strong opinions, 1973) findet sich eine dazu passende Kritikerschelte, die noch immer ihre Richtigkeit, leider auch ihre Aktualität hat: «Der Kritiker bevorzugt die Methode, sich aus meinen Romanen das herauszupicken, was er für tatsächliche, aus dem Leben gegriffene Eindrücke hält, um sie dann in die Romane zurückzustopfen und meine Romanfiguren in diesem schiefen Licht zu beurteilen …»
Mehrheitlich verfährt die Literaturkritik noch heute so; sie misst und beurteilt einen Text vorwiegend anhand ausserliterarischer Kriterien wie Lebensnähe, Wirklichkeitstreue, Einfühlung, Plausibilität, Engagement u.ä.m., und erst danach fragt sie – falls überhaupt – nach «Stil und Struktur» des Werks. Statt den Blick über den Textrand hinaus auf das Dargestellte zu fixieren, sollte sich der Kritiker, so die Forderung Nabokovs, auf die Sprachlichkeit der Darstellung besinnen, sollte «eintauchen» in den Text und «sich zwingen, in den klaren Tiefen unter der verschwommenen Oberfläche die Augen zu öffnen», aber auch die Ohren offen zu halten, um «das regelrechte Trompetengeschmetter innerer Evidenz» wahrzunehmen, von dem jeder starke Erzähltext durchklungen sei. Das mag eine etwas überanstrengte Metaphernbildung sein, doch macht sie hinreichend deutlich, worauf es Nabokov ankommt und welche Anstrengung er seinen Rezensenten abverlangt.
Das zuletzt angeführte Zitat entnehme ich dem Vorwort des Autors zu seinem Roman Fahles Feuer (Pale Fire, 1962), der seit kurzem in revidierter und reichlich kommentierter deutscher Fassung wieder greifbar ist. Es gibt bekanntlich mehrere autoritative Lesarten dieses «Romans», der von einem Roman nicht das Geringste an sich hat, in dessen Zentrum vielmehr ein episches Gedicht steht, in vier Cantos abgefasst vom fiktiven Dichter John Shade, herausgegeben, bevorwortet und kommentiert vom fiktiven Editor Charles Kinbote, alles auf rund 400 Seiten vor dem staunenden Leser ausgebreitet.
Und dieser – reale – Leser ist jener literarische Normalverbraucher, mit dem die Rezensenten sich so gern gemein machen, dessen Geschmack sie nicht erziehn, sondern teilen und der also mit der Mehrheit des Publikums erwartet, dass der Autor ihm zu sehn und zu verstehn gibt, was er, der Leser, oder sie, die Rezensentin, längst gesehn und verstanden hat; dass Kunst demnach die Welt widerspiegle, wie sie halt so ist, und Gefühle und Gedanken wiedergebe, wie man sie eben mal so hat. Kunst nicht als Aktion unter eignem Gesetz und in eigner Dimension; Kunst vielmehr als Reaktion auf das, was nicht Kunst ist, was man zu kennen glaubt in dem Mass, wie man es erlebt, erleidet, geniesst.
Was immer zu diesem Buch gesagt, aus ihm herausgelesen und in es hineininterpretiert worden ist – es ist ein Buch über die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Leben, vor allem jedoch eine ingeniöse Parodie auf die Erwartungen und Vorurteile, die von der breiten Leserschaft hochgehalten, von der mehrheitlichen Literaturkritik kolportiert werden. Das Parodistische zeigt sich schon im quantitativen Missverhältnis zwischen Shades Hauptwerk (999 Verszeilen) und Kinbotes ausschweifenden Kommentaren dazu (ca. 350 Druckseiten), und es wird akzentuiert dadurch, dass der Autor – nun also Nabokov – dem geneigten Publikum den Rat gibt, den Kommentarteil zuerst zu lesen, sich vorab mit den «Realien» vertraut zu machen, aus denen das Gedicht erwachsen ist und die es zum Inhalt hat.
Vladimir Nabokov bedient hier ganz unverhüllt sämtliche Klischeevorstellungen von «schöner Literatur», die als Fiktion angeblich nur einfach Fakten vorzuführen habe; seinem schattenhaften Dichterhelden John Shade diktiert er dazu ein paar scheinbar neckische, in Wirklichkeit zynische Zeilen in die Feder, Zeilen, die in direkter Rede eine begeisterte Leserin über ihre jüngste Lyriklektüre schwärmen lassen:
Die Gedichte in der ‹Blue Review› fand ich ganz himmlisch,
Die über den Mong Blang besonders. Ich hab eine Nichte,
Die war schon auf dem Matterhorn. Das andre Stück,
Das hab ich nicht begriffen. Also die Bedeutung.
Den Klang natürlich …
Was Shade seinerseits mit einem süffisanten poetologischen Statement dieses Wortlauts quittiert:
Nur dies – kein Text, sondern Textur; kein Traum,
Vielmehr ein Kuddelmuddel war es von Koinzidenzen,
Statt fadenschein’gem Unsinn war’s ein Sinngewebe.
Oh doch! Es war genug, wenn ich im Leben so etwas
Wie einen LinkundBobolink entdeckte, eine Art
Korrelativen Musters innerhalb des Spieles, eine Art
Kunstreichen Plexus und ein wenig von dem gleichen Spass,
Den jene, die es spielten, daran hatten.
Zu markieren sind an dieser Stelle die Begriffe «Textur», «Koinzidenzen», «Sinngewebe», «korrelativ», «Plexus», mit denen Nabokov alias Shade sein Kunstverständnis darzulegen versucht, recht verstiegen zwar, aber doch so klar, dass deutlich wird, wie komplex das dichterische Kunstwerk sowohl auf der Wort- wie auf der Bedeutungsebene strukturiert ist; deutlich auch, dass diese Komplexität aus lautlichen, grammatischen und semantischen Wechselbeziehungen spielerisch sich aufbauen soll. Man kann darin durchaus ein ironisch gebrochnes Plädoyer für eine Kunst um der Sprache willen mitschwingen hören. In der Sprachkunst gewinnt die Sprache ihre eigne Autorität, und diese wiederum relativiert notwendigerweise jene des Autors. Der Dichter beherrscht nicht nur die Sprache, er lässt sich von ihr auch beherrschen:
Dann geh ich auf und ab – und wie auf stumme Order
Da flötet schon das rechte Wort, setzt sich auf meine Hand
Das «rechte Wort» ist das nach Massgabe der Sprache richtig eingesetzte und mit andern Wörtern zu einer sinnreichen Textur kombinierte Dichterwort; die Sprachkunst schafft auf solche Weise ihre eigenständige Welt, die den gleichen Status hat wie die aussersprachliche Wirklichkeit, also niemals bloss deren poetische Widerspiegelung sein kann, sehr wohl jedoch ein autonomes Medium zum Verständnis dieser Welt, mit der sie wenn nicht bildhaft, so doch strukturell übereinstimmt:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIch glaube
Das Dasein zu verstehn, zumindest einen kleinen Teil
Von meinem Dasein, ganz allein durch meine Kunst,
Im Sinne kombinierenden Vergnügens;
Und wenn mein Universum metrisch stimmt,
So tut es auch der Vers der Galaxien,
Der göttlichen; vermutlich ist er jambisch.
Wer die Sprachkunst als «kombinierendes Vergnügen» auffasst und praktiziert, sich selbst und sein Werk also abkoppelt von der sogenannten Wirklichkeit, wird von der Kritik in aller Regel – so ist es lange Zeit auch Nabokov selbst ergangen – mit dem Vorwurf der Weltfremdheit, des Formalismus und Snobismus eingedeckt. Was John Shade betrifft, so hat er sich, wie Kinbote in seinem Zeilenkommentar berichtet, weder durch Lob noch durch Tadel je beeindrucken oder gar beeinflussen lassen. Da er seine Rezensenten ausnahmslos für unbedarfte Schreiberlinge hielt, musste ihm deren Verdikt egal sein; gegenüber seinem nachmaligen Herausgeber sagt er dazu: «… ich habe mich nie damit abgegeben, mich aus dem Fenster zu lehnen und mein Skoramis auf den Schädel irgendeines Skribenten zu entleeren. Ich betrachte beides, den Verriss wie die Hymne, mit demselben Gleichmut.» Kinbote: «Ich nehme an, Sie tun ersteres als Geschwätz eines Schwachkopfs ab, letzteres aber als die liebe Tat einer guten Seele?» Shade: «Genau.» Und noch ein kurzer Dialog zur Funktion oder Aufgabe, die der Rezensent in Übereinstimmung mit dem Publikum für den Autor immer schon vorgesehn hat. Shade: «… wenn ich einen Kritiker über die Aufrichtigkeit eines Autors reden höre, weiss ich schon, dass entweder der Kritiker oder der Autor ein Dummkopf ist.» Kinbote: «Aber wie ich höre, wird diese Denkweise doch bereits den Schülern in der Oberschule beigebracht?» Shade: «Da sollte auch der Besen zu kehren anfangen.»
In einem TV-Interview von 1962 hat Vladimir Nabokov das weit verbreitete Bedürfnis nach einer weltzugewandten, realistisch darstellenden Belletristik ebenso wie die übliche Identifikation des Autors mit dem Erzähler oder dem Haupthelden eines Literaturwerks im Hinblick auf die Rezeption von Fahles Feuer (und in Übereinstimmung mit der Kunstfigur des Dichters Shade) noch einmal sarkastisch zurückgewiesen mit den Worten: «Freilich gibt es da eine Sorte Kritiker, wenn die einen Roman bespricht, hört sie die Flöhe husten und erkennt in jedem i-Tüpfelchen den Kopf des Autors. Neulich hat ein anonymer Hanswurst in einem New Yorker Literaturblatt ‹Fahles Feuer› besprochen und dabei alle Verlautbarungen des fiktiven Kommentators so missverstanden, als handelte es sich um meine eigenen Ansichten.»
Also hat auch die Tatsache, dass Vladimir Nabokov mit seinem Erfolgsroman zugleich eine fulminante Kritik der Literaturkritik geliefert hat, nichts zu deren Problembewusstsein und Kompetenzsteigerung beigetragen. Und auch jene Rezensenten, die Fahles Feuer nun anhand der neuen deutschen Ausgabe erneut als Meisterwerk feiern, scheinen mehrheitlich nicht zu realisieren, dass sie genau das belobigen, was der Autor durch die fiktive Gestalt des Charles Kinbote ironisch blossstellt und vernichtender Kritik preisgibt.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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