I
«Was man sich vorstellt, bestimmt und bestätigt, was man wahrnimmt», hat einst der französische Philosoph Gaston Bachelard notiert. Als beispielhafter Beleg dafür kann Rainer Maria Rilkes frühe Begegnung mit Russland gelten, eine Begegnung, die prägend geworden ist für ihn und die in seinem Leben wie in seinem Werk bedeutsame Spuren hinterlassen hat. Was er dem Land verdankte und wie weitgehend es ihm zur zweiten Heimat wurde, hielt Rilke, nicht ohne Pathos, in einem denkwürdigen Brief an Leopold von Schlözer fest: « – es hat mich zu dem gemacht, was ich bin, von dort ging ich innerlich aus, alle Heimat meines Instinkts, all mein innerer Ursprung ist dort!»
Seine wirkliche, und das heisst hier: seine geistige Heimat – eher Mutter- denn Vaterland! – hat Rilke nach eignem vielfachen Bekunden tatsächlich in Russland gefunden, das er zweimal (1899/1900), eingeführt und begleitet von seiner aus Sankt Petersburg gebürtigen Freundin Lou Andreas-Salomé, extensiv bereiste: «Dass Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen grossen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe …» Nicht nur das Studium der russischen Sprache und die gründliche Beschäftigung mit der Kultur Russlands, auch manche Begegnung mit russischen Menschen – darunter Lew Tolstoj, Leonid Pasternak, Alexander Benua – hat Rilke die «Wendung ins eigentlich Eigene» ermöglicht, eine Wendung, von der sein Werk (vom Stundenbuch bis hin zu den Sonetten an Orpheus und den Duineser Elegien) ebenso deutlich imprägniert geblieben ist wie sein Denken und Empfinden.
Noch bevor Russland für Rilke zum Erlebnis wurde, war es – nicht zuletzt durch persönliche Begegnungen und Gespräche mit russischen Besuchern im Umkreis seiner damaligen Freundin Lou Andreas-Salomé – als Bild (das Heilige Russland) vorgezeichnet und als Idee (die geistige Heimat) vorbestimmt. Die beiden Russlandreisen im Aufgang zum 20. Jahrhundert – zusammen mit Lou besuchte Rilke Sankt Petersburg, Moskau, die Klosterstadt Sagorsk und das Landgut von Lew Tolstoj in Jasnaja Poljana – konnten in der Folge, trotz starken Eindrücken und lehrreichen Begegnungen, keine wesentlich neuen Erkenntnisse mehr vermitteln. Kritische Wahrnehmung kam nicht zum Zug gegenüber dem quasireligiösen Faszinosum dessen, was der Dichter als seine «eigentliche Heimat» sehen wollte. Der persönliche Augenschein sollte lediglich der Bestätigung positiver Vorurteile und der Erschliessung «entsprechender Sinnbilder» dienen.
Rilke selbst hielt während seines ersten Russlandaufenthalts in einer Briefnotiz fest, seine Reise sei ihm bloss zur «Ergänzung» früherer Eindrücke und Sinngebungen geworden; sie habe ihn – eher schicksalhaft denn gewollt – «zum nächsten Dinge geführt»: «Im Grunde sucht man in jedem Neuen (Land oder Mensch oder Ding) nur einen Ausdruck, der irgendeinem persönlichen Geständnis zu grösserer Macht und Mündigkeit verhilft. Alle Dinge sind ja dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn. Und sie leiden nicht dadurch, denn während sie uns immer klarer aussprechen, senkt unsere Seele sich in demselben Masse über sie. Und ich fühle in diesen Tagen, dass mir russische Dinge die Namen schenken werden für jene fürchtigsten Frömmigkeiten meines Wesens, die sich, seit der Kindheit schon, danach sehnen, in meine Kunst einzutreten!..»
II
Es ist durchaus staunenswert (und im Übrigen kaum bekannt), dass sich bei Rilke «russische Dinge» auch in russischer Sprache konkretisiert haben. Nicht nur hat Rilke das altrussische Lied von der Heerfahrt Igors, Gedichte von Lermontow und Droshshin sowie ein Drama von Anton Tschechow ins Deutsche übersetzt, er hat bereits um 1900 auch selber auf Russisch Lyrik verfasst, insgesamt acht Gedichte, von denen drei in deutscher Rück-Übersetzung hier eingerückt seien:
ERSTES LIED
… Abend. Beim Meer sass eine
Maid, wie die Mutter beim Kind.
Sie hat ihr Lied gesungen, alleine
lauscht sie nun dem flauen Wind,
des Meeres Atem fächelt;
Friede, Zuversicht – sie lächelt,
und wie leuchtend ist ihr Blick:
mehr als ein Lächeln – festlich
erhellt sich ihr Gesicht.
Das Kind wird an Fernstes rühren,
an den Himmel – wie das Meer.
Wird es Stolz oder Gram verspüren,
wiegt Flüstern, wiegt Stille mehr?
Du kennst nur die weiten Gestade,
sitzt nur da und wartest ab …
Singst auch du ein Lied, doch schade –
es zu beseelen fehlt die Gabe,
ihm bleibt kein Leben und kein Schlaf.
aaaaaaaaaaaaaaa(Schmargendorf, 29. November 1900)
LIED
Ich gehe und gehe, und noch immer
ist Heimat ringsum, ist Ferne – winderfüllt,
ich gehe und gehe und weiss nimmer,
dass ich auch andre Länder einst für Heimat hielt.
Und wie weit sind jene grossen Tage
schon entrückt, die südlichen Gestade,
die süssen Untergänge einst im Mai;
dort ist alles Raum und Helle – aber jäh
verdunkelt sich der Gott … das schmerzensreiche
Volk trat zu ihm hin, nahm ihn zu sich –
als seinesgleichen.
aaaaaaaaaaaaaaa(1. Dezember 1900)
BIN SO ALLEIN
Bin so allein. Und keiner, der das Schweigen
– die Stimme meiner langen Tage – kennt.
Kein Wind, der meine beiden Augen
wie einen weiten Himmel offen hält.
Draussen steht ein grosser fremder Tag,
ein Ungeheuer, das am Stadtrand wacht.
Bin ich es selbst? Worauf ich warten mag?
Wohin hat sich die Seele aufgemacht?
aaaaaaaaaaaaaaa(Entwurf, April 1901)
III
So hat sich Rilke sein «eigenes Russland, ein erdachtes Märchenland» geschaffen, das seinerseits – vielfach und grossartig vergegenwärtigt in seinem Werk – als eine künstlerische Schöpfung zu betrachten ist, als eine Art «Mythenpoesie», wie man sie in Bezug auf Deutschland etwa von Marina Zwetajewa oder in Bezug auf Armenien von Ossip Mandelstam kennt. In einem späten Brief aus dem Walliser Schlösschen Muzot, wo er von einer jungen Russin hingebungsvoll betreut wurde, schrieb Rilke – teilweise in russischer Sprache! – kurz vor seinem Tod noch einmal an Leonid Pasternak, um darzutun, dass Russland, «diese unvergessliche heimliche Skaska (= Märchen)», ihm zeitlebens «nah, lieb und heilig geblieben ist», für immer «eingelassen in die Grundmauern» seines Lebens.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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