Manuskript

Oft dementieren die Handschriften von Dichtern deren Gedichte. Die Geste des Schreibens und das Design der Schrift können der Dichtung mal schroff, mal sanft zuwiderlaufen. Celans schwache Schrift, die fast ohne Zug und Druck ist, bildet einen auffallenden Kontrast zu den harten Fügungen seiner Strophen und Metaphern. Pasternaks grosse, fliessende, fast fliegende Handschrift entspricht in keiner Weise seinem vertrackten Versbau und seiner ebenso vertrackten Einbildungskraft. Ich selbst habe an meiner Handschrift lang gearbeitet und konnte mich damit erst ganz spät einigermassen identifizieren. Ich hatte Mühe, von der Blockschrift wegzukommen, weg vom schriftlichen Buchstabieren zu zügigem, fast zeichnerischem Schreiben. Noch als Student exzerpierte ich Hunderte von Seiten in «Architektenschrift», immer nur Einzelbuchstaben oder kleine Buchstabengruppen nebeneinandersetzend und dabei das Schreibgerät sehr weit vorn, knapp über der Stahlfeder oder dem Kugelschreiberkopf haltend. Dieses Schreiben war senkrecht auf die Schreibfläche gerichtet, eine Art Gravur, dabei sprunghaft von einem Zeichen zum andern übergehend. Allmählich lockerte sich im Verlauf der Jahre die Hand, sie wurde leichter, zog sich mehr und mehr von der Spitze des Stifts nach oben zurück. Die Schrift nahm zeichnerischen Charakter an, wurde dabei immer grösser, aber auch unleserlicher. Das Schreibgerät lag … liegt mir nun fast wie ein Pinsel in der Hand oder auch – fast wie ein Pendel. Wenn ich versuchsweise zurückdenke bis zu dem Zeitpunkt, da ich meine Handschrift endlich für einen unmittelbaren Ausfluss und Ausdruck meiner Körpersprache halten konnte, wird mir klar, dass ich damals – gleichzeitig – auch meine Dichtersprache gefunden habe, zu der die Handschrift eine genaue graphische Entsprechung bildet.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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