Meeting

Gestern (oder vorgestern?) unter den «Vermischten Meldungen» zwei Agenturberichte, der eine aus einem Dorf im Zürcher Oberland, der andre aus Tscheljabinsk in Russland. Hier ist in einer Kaserne ein Armeerekrut, achtzehnjährig, von mehreren Kameraden und Unteroffizieren schwer drangsaliert, lebensgefährlich verletzt und dann weggeschlossen worden. Erst Tage später wurde er ärztlich versorgt, man musste ihm die Beine, die Genitalien amputieren. Dort, auf einer Baustelle in Hinwil, stürzte ein Arbeiter vom Gerüst und traf auf ein Armierungseisen, das vom Gesäss her dreissig Zentimeter in den Unterleib eindrang. Der Mann wurde sofort in die Klinik gebracht, man musste ihm eine Niere, einen Teil der Leber entfernen und die Genitalien amputieren.

Merkwürdige Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit zweier weit auseinanderliegender Horrorszenen. Gleich – zumindest vergleichbar – sind die Folgen der beiden Vorfälle, doch wenn da ein Zufall oder ein Fehlverhalten die Ursache war, so war’s dort Absicht und böser Wille. Denn allein der Mensch ist dazu imstand, das Böse, die Katastrophe zu wollen, den Horror planmässig an­zurichten, und allein für ihn stellt sich die Frage nach Verantwortung und Schuld. Für die Opfer, die so oder anders die Leidtragenden sind, ist diese Frage sekundär; oder macht’s für sie einen Unterschied, ob ihr Schmerz und ihre vielleicht lebenslängliche Traumatisierung auf einen Zufall, ein Verbrechen, ein eignes Missgeschick oder bloss auf das «menschliche Versagen» eines Aussenstehenden zurückzuführen sind?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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