Es gehört zur Tradition literarischen Übersetzens in Russland, dass der Übersetzer – oft selbst ein Dichter – weitgehend souverän als Autor agiert und den von ihm eingeholten, angeeigneten, umgeformten Text unter eignem Namen an sein Publikum vermittelt. Der bei solcher Gelegenheit übliche Hinweis – meist in Klammern als Untertitel eingesetzt – lautet «aus …»; also beispielsweise «aus Heine», «aus Baudelaire», «aus Yeats». Damit wird lediglich der Originalautor als Quelle namhaft gemacht, nach dessen Vorlage übersetzt beziehungsweise eben nachgedichtet wurde. Dies wiederum gibt dem Übersetzer weitgehende Freiheiten im Umgang mit dem Herkunftstext, eine poetische Eigenmächtigkeit, für die es im Russischen auch eigens das Wort otsebjátina gibt, was so viel wie «Selbstgemachtes», aber auch «Willkürliches» bedeutet.
Das übersetzerische Handwerk wird demnach als eine spezifische Spielart dichterischen Tuns praktiziert. Im Vordergrund steht nicht ein bestimmter, möglichst adäquat in die Zielsprache zu übertragender Text, sondern ein fremdsprachiger Autor, dem der russische Dichter, primär auf Intonation und Rhythmus achtend, seine Stimme leiht. Deshalb kann er, der russische Dichter, in eignem Namen nachschreiben, ausschmücken und ausdeuten, was er bei einem andern vorgefunden hat. Es geht ihm darum, die russische Literatur um ein russisches Gedicht, und nicht um die russische Übersetzung eines Gedichts zu bereichern.
Was Schleiermacher und noch Benjamin von der dichterischen Übersetzung gefordert haben, dass sie nämlich den fremdsprachigen Urtext in der Zielsprache durchschimmern lasse, hat in Russland kaum Gehör gefunden. Hier soll die Übersetzung tatsächlich einen Mehrwert schaffen, also nicht mit kalkulierten Verlusten arbeiten, sie soll – und darf – das Original nach Gutdünken vereinnahmen, umschreiben, allenfalls kürzen oder ergänzen, immer mit der Absicht, auch im Russischen seinen Status als Original zu behaupten.
Am weitesten hat es darin wohl der romantische Dichter Wassilij Shukowskij gebracht, dessen freie Nachdichtungen «aus Schiller», «aus Lenau» den deutschen Autoren dazu verholfen haben, in Russland als Russen wahrgenommen und gelesen zu werden. Auch die Übersetzungen Puschkins, Gneditschs oder Fets, wie später jene von Annenskij, Blok und Mandelstam gehören zum Bestand ihres jeweils eignen Werks, mithin zum Bestand der russischen Poesie.
Als ein Beispiel, eine Probe solcher Um- und Neudichtung führe ich hier ein Gedicht Boris Pasternaks «aus Rilke» an, das mit der deutschen Vorlage nur noch in Bezug auf das Grundmotiv – Vereinigung von Buch und Natur im Akt des Lesens – übereinstimmt, nicht aber in formaler Hinsicht (Strophik) und auch nicht in der Titelgebung. Ist es bei Rainer Maria Rilke der Lesende, von dem der Text seinen Ausgang nimmt, so gilt Pasternaks Interesse eher dem Buch, das denn auch im Titel an die Stelle des Lesers tritt: «Der Lesende» wird im Russischen – wörtlich – wiedergeben mit «hinter dem Buch» beziehungsweise «am Buch», was in korrektem Deutsch so viel bedeuten würde wie «über dem Buch», d.h. explizit «über das Buch gebeugt» oder eben «beim Lesen».
Mit Rilke, dem er an übersetzerischem Eigensinn und Einfallsreichtum in nichts nachsteht, stimmt Pasternak darin überein, dass die Qualität der Lyrikübersetzung nicht durch philologische Treue zum Original beziehungsweise durch semantische Übereinstimmung mit diesem bestimmt wird, nicht also durch die bloss korrekte Wiedergabe des originalen Wortbestands im einzelnen, vielmehr dadurch, wie das vorliegende Gedicht insgesamt, nämlich als integraler Klang- und Bedeutungskomplex, in die Zielsprache gebracht – gerettet! – wird. Pasternak selbst hat in einer Notiz zu seinen Shakespeare-Übersetzungen unterstrichen, «dass wörtliche Genauigkeit und Übereinstimmung der Form noch keine Garantie sind für echte Übersetzungsnähe»; wie das Original, so müsse auch «die Übersetzung den Eindruck von Leben, und nicht von Literatur» vermitteln.
Nachfolgend konfrontiere ich Rilkes Originaltext mit meiner Übersetzung beziehungsweise Rückübersetzung von Pasternaks freier Nachdichtung. Ich übersetze mithin (ins Deutsche) eine Übersetzung (aus dem Russischen), die ihrerseits den Anspruch hat, ein originales, zumindest originelles (russisches) Gedicht zu sein. Dass durch die Hin- und Rückübersetzung manche prosodischen und semantischen Komponenten der deutschen Vorlage verloren gehn, ist ebenso klar, wie es reizvoll ist; die Unterschiede fallen umso mehr ins Aug, als Pasternaks Nachdichtung – als russische Zwischenstufe zwischen deutschem Original und deutscher Rückübersetzung – fortgelassen wird. Anzumerken bleibt, dass meine Übersetzung dem Pasternakschen Text mit grösstmöglicher poetischer Genauigkeit folgt.
Boris Pasternak
ÜBERM BUCH
(nach Rilke)
Ich las und las, sass da, vergass –
Ein grosser Regen schlug ans Fensterglas.
Doch hörte ich den Regen nicht,
Im Buch vergrub ich mein Gesicht.
Wie Runzeln krümmten sich die Zeilen,
Und während Stunden stand die Zeit,
Stand still, ging rückwärts in die Ewigkeit.
Ein Wort sah ich durch alle Zeiten eilen,
Das rote Wort für Abend, Abschiedsleid …
Jetzt reisst der Faden, und wie Perlen kollern
Die Lettern in die Leere, rollen fort.
Ich weiss, die Sonne hätte an den Ort,
Den sie verliess, noch einmal wiederkehren sollen
Aus all den Gärten übervoll von Abendrot.
Doch nun ist Nacht, so weit ich sehe.
Die Bäume stehen starr am Strassenrand,
Die Menschen reichen schweigend sich die Hand,
Und wenn sie reden – jedes Wort ein Pfand,
Mit Gold nur aufzuwiegen. Welche Nähe!
Und wenn ich dann vom Buch die Augen hebe
Und mich ins Freie wage mit dem Blick –
Wie rasch da fern und nah zusammenrückt
Und wie genau ich mit der Zeit zusammenlebe!
Das Dunkle ist’s, wonach ich strebe,
Mein Auge taucht ins nächtliche Massiv,
Der Erde war der Zaun zu eng, der Garten schlief,
Als sie gewaltig über sich hinaus
Und in den Himmel wuchs – der erste Stern
Steht überm letzten Haus,
Er ist so nah und ist zugleich so fern.
(1958)
Rainer Maria Rilke
DER LESENDE
Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. –
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend … überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen …
Da weiss ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. –
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.
Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur dass ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, –
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.
(1901)
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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