Neu oder nach?

I

Das Nachübersetzen literarischer Texte hat seit geraumer Zeit Hochkonjunktur. Nicht nur zahlreiche Werke aus dem kanonischen Fundus der Weltliteratur (darunter Shakespeares Sonette, der Don Quijote von Cervantes, Melvilles Moby Dick, Manzonis Verlobte, Stendhals Kartause von Parma, die Versdichtungen Puschkins und die späten Romane Dostojewskijs), sondern auch manche Klassiker der europäischen Moderne wie Yeats, Eliot, Lorca, Belyj, Pasternak, Svevo, Ungaretti, Claude Simon u.a.m. sind in den vergangenen Jahren in neuer deutschsprachiger Fassung erschienen. Allein von Henry Fieldings Monumentalroman Tom Jones gibt es aus jüngerer Zeit drei vollständige Neuübersetzungen, und bereits werden auch zeitgenössische Autoren im Abstand von wenigen Jahren nachübersetzt, was darauf schliessen lässt, dass die Halbwertszeit literarischer Übersetzungen neuerdings drastisch im Sinken ist.
Diese zum Trend gewordene Tendenz kann zweierlei Gründe haben. Entweder geht es darum, bereits vorliegende Übersetzungen philologisch auf Fehler oder Auslassungen im Text zu überprüfen, sie also zu revidieren, oder es besteht das Bedürfnis nach weiterge­hender stilistischer Bereinigung beziehungsweise nach der Anpas­sung eingedeutschter Vorlagen an zeitgenössische Lektüreerwartun­gen. Beide Zugänge sind berechtigt, die jeweils angewandten Verfahren unterscheiden sich allerdings fundamental. Während der philologische, vorab auf Korrektheit angelegte Zugang den Weg zurück zum fremdsprachigen Originaltext neu eröffnet und dessen inhaltliches Verständnis optimiert, führt der stilkritische Zugang in aller Regel über die Originalvorlage hinaus, nicht selten mit dem Anspruch, die Übersetzung als eigenständige Nachdichtung in der Zielsprache zu etablieren und dadurch, im Unterschied zum philologischen Übersetzer, auch einen literarischen Mehrwert zu schaffen. Im einen wie im andern Fall kommt den bereits vorhandnen Übersetzungen, unabhängig von ihrer Qualität, fast ebenso grosse Bedeutung zu wie den fremdsprachigen Originaltexten.

II

Jede Neuübersetzung ist eine Nachübersetzung, deren Berechtigung der Übersetzer durch seine Arbeit belegen muss. Nicht selten wird dieser Nachweis gleich schon auf der Ebene der Titelei geführt. Manche Nachübersetzer fühlen sich bemüssigt, durch die Neufassung der Werktitel, sei sie auch noch so minimal, ihre Eigenständigkeit zu unterstreichen. So legt Barbara Köhler ihren neuen Beckett mit dem Titel Trötentöne (für «Mirlitonnades») vor, was keineswegs die souveräne Emanzipation von Krolows Flötentönen, vielmehr die Abhängigkeit davon dokumentiert, die hier durch einen parodistischen Touch zwar überspielt wird und gleichwohl auf die verdrängte Vorlage zurückverweist.
Wesentlich weiter geht, in Bezug auf die Titelgebung, der Nachübersetzer von Alessandro Manzonis I promessi sposi, wenn er den seit langem eingebürgerten Titel Die Verlobten durch Die Braut­leute ersetzt – eine Entscheidung, die ohne erkennbare Notwendigkeit über die völlig korrekte (und überdies auch klanglich dem originalen Wortlaut besser entsprechende) ältere Fassung hinweggeht, und dies zu Gunsten eines hölzernen Begriffs, der eher zu den verstaubten Papieren einer Pfarrei passt als zu einem hochromantischen Erzählwerk.
Noch eigenwilliger signalisiert Fjodor Dostojewskijs jüngste deutsche Nachdichterin ihren Anspruch auf übersetzerische Originalität, indem sie die gewohnten Werktitel, wo immer möglich, in völlig neuem Wortlaut wiedergibt. Diese Möglichkeit fehlt naturgemäss bei einem Titel wie Die Brüder Karamasow, und auch Der Idiot lässt wenig Spielraum für Abweichungen oder Varianten, es sei denn, man wollte das Titelwort als Übernamen des Fürsten Myschkin verstehen, was den Artikel «der» überflüssig machen würde: Idiot. Diese Variante wäre durchaus plausibel, ist bisher jedoch nicht zum Zug gekommen.
Rund ein Dutzend Mal ist Dostojewskijs philosophischer Kriminalroman Schuld und Sühne bislang ins Deutsche gebracht worden, doch keiner der Übersetzer hat sich je dazu entschliessen können, die Titelbegriffe in schlichter Wörtlichkeit wiederzugeben, nämlich als «Verbrechen und Strafe». Die Nachübersetzerin
 brauchte in diesem Fall lediglich aufs Wörterbuch zurückzugreifen, um ihre Distanznahme zu früheren Eindeutschungen deutlich zu machen. Noch hat sich allerdings der neue Titel nicht eingebürgert, seine philologisch korrekte Fassung als «Verbrechen und Strafe» ist rhythmisch weniger einprägsam und wirkt überdies zu vordergründig, zu prosaisch für die frenetisch vorgetragene Geschichte eines intellektuellen Gesinnungstäters, der aus angeblich humanitären Gründen einen Raubmord begeht, danach gefasst und verurteilt wird und schliesslich hochgemut mit dem Evangelium in der Tasche nach Sibirien ins Straflager zieht, um seine Bluttat abzugelten – eine Geschichte, in der es tatsächlich viel mehr um Schuld und Sühne geht als bloss um ein Verbrechen und dessen juristische Abarbeitung. Hier liegt also eins der seltenen Beispiele dafür vor, dass eine freie Titelübersetzung mit interpretativer Vorgabe dem Text in der Zielsprache besser entspricht als die wörtliche Wiedergabe.
Im Rahmen der neuen Nachübersetzung von Dostojewskijs grossen Romanen liegen Die Dämonen neuerdings unter dem Titel Böse Geister vor, eine Fassung, die kaum zu rechtfertigen, wenn nicht gar irreführend ist, da in diesem Werk keineswegs von irgendwelchen volatilen Erscheinungen die Rede ist, sondern von realen, «teuflisch» denkenden und handelnden Personen, zu denen es eindeutig bestimmbare historische Prototypen gibt. Auch dem Wortlaut nach, also klanglich und rhythmisch ist der Titel Böse Geister von der russischen Vorlage («Besy») weit entfernt; er wirkt durch Überdehnung allzu explikativ, ist eher eine (zweifelhafte) Interpretation denn eine adäquate Übersetzung und vermag die guten alten Dämonen nicht gleichwertig zu ersetzen.
Dies gilt noch mehr für den jüngst in Nachübersetzung erschienenen Roman Ein grüner Junge, den man bislang vorab als Der Jüngling kannte. Der neue, aus drei Wörtern bestehende redensartliche Titel geht weit über das hinaus, was Dostojewskij mit dem einen russischen Titelwort «Podrostok», das schlicht einen «Heranwachsenden» oder «Halbwüchsigen» bezeichnet, neutral 
benannt hat. Da dieser junge Mann zugleich als Erzähler und Protagonist der langwierigen, komplex gebauten Geschichte fungiert, kann er sicherlich nicht als «ein grüner Junge» gelten, der in deutschem Verständnis noch ein Knabe und jedenfalls ein naives oder unbedarftes Jüngelchen wäre. Auf Dostojewskijs jugendlichen Helden trifft dies in keiner Weise zu, und es ist nicht einzusehen, weshalb für die neue Übersetzung ein neuer Titel gewählt werden musste, der im Übrigen durch den unbestimmten Artikel – warum «ein» Junge? wo es doch um einen klar bestimmten Jungen geht! – zusätzlich verfremdet wird. Auch hier drängt sich die Vermutung auf, dass die Nachübersetzung durch die vom Original wie von den bisherigen Übersetzungen auffallend abweichende Titelgebung als eigenständige Leistung ausgewiesen werden soll. Ein Gewinn gegenüber früheren Übersetzungen ergibt sich daraus mitnichten.

III

Wer nachübersetzt, provoziert naturgemäss den Vergleich mit jenen früheren Übersetzungen, die er für korrekturbedürftig hält. Von neu übersetzten Texten erwartet man gemeinhin, dass sie ältere Fassungen ersetzen, weil sie «besser» sind als diese – «genauer», «leichter lesbar», «poetischer», «moderner», «eleganter» u.ä.m. Für den Nachübersetzer wiederum können derartige Erwartungen zur Belastung werden, in vielen Fällen hindern sie ihn daran, exzellente Lösungen seiner Vorgänger zu übernehmen, denn wer neu übersetzt, lässt sich ungern als Nachübersetzer bezeichnen und wird alles dafür tun, seine Kompetenz und Überlegenheit unter Beweis zu stellen.
Namentlich anhand von Paul Celans einflussreichen dichterischen Übertragungen oder, generell, von Shakespeares eingedeutschten Sonetten liesse sich zeigen, wie spätere Übersetzer um bereits vorliegende Fassungen gleichsam herumgedichtet haben – bloss um Übereinstimmungen zu vermeiden, und selbst um 
den Preis, hinter ihren Wegbereitern zurückzubleiben. Die jüngsten Neuübersetzungen von Mallarmé, Mandelstam, Beckett oder Wenedikt Jerofejew bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial, und man könnte, man sollte sich vielleicht doch einmal die Frage stellen, ob das umgekehrte Verfahren nicht um vieles produktiver wäre, nämlich die systematische Abfrage bereits vorliegender Übersetzungen nach brauchbaren, wenn nicht sogar optimalen Lösungen und deren Wiederverwertung für immer wieder neue, das heisst erneuerte Nachübersetzungen.
Die Daueraufgabe des literarischen Übersetzens wäre demnach als permanentes Recycling zu praktizieren. Jeder Nachübersetzer müsste sich für seine Arbeit dadurch rechtfertigen, dass er aus früheren Übersetzungen jeweils die besten Stücke unverändert beibehält und nur dort eingreift oder Eignes beiträgt, wo Verbesserungen tatsächlich möglich, mithin auch nötig sind. – Der Nachübersetzer ist in jedem Fall Mitübersetzer, doch statt sich positiv auf seine Vorgänger und Vorlagen beziehen, setzt er sich gemeinhin polemisch von ihnen ab, um die eigne Arbeit aufzuwerten. Dennoch ist festzustellen, dass manch eine ambitionierte Nachübersetzung (die ja stets als Neuübersetzung zu gelten beansprucht) hinter den Texten, die sie zu ersetzen vorgibt, zurückbleibt. Denn auch Übersetzer haben – nicht anders als interpretierende Musiker – ihre feststellbaren, manchmal «typischen» Stärken und Schwächen. Die Schwächen sollten beseitigt werden, die Stärken erhalten bleiben. Eine ideale, eine definitive literarische Übersetzung wird auch so nicht gelingen, wohl aber – man denke an den Wettlauf Achills mit der Schildkröte – die stetige Annäherung an eine letzte, nicht mehr überbietbare Textfassung in der Zielsprache.

IV

Doch zurück zu den Realien, zur Praxis des Nachübersetzens. Anhand eines neueren Beispiels will ich meine Überlegungen präzisieren. Von Emily Dickinsons Gedichten liegt seit 2006 eine umfassende, an Vollständigkeit grenzende Auswahl in zweisprachiger, chronologisch konzipierter Edition vor. Der Verlag hatte den Band mit dem Hinweis beworben, die amerikanische Dichterin habe «in Deutschland bisher als Geheimtip» gegolten, eine Behauptung, die durch die Tatsache widerlegt ist, dass es von Emily Dickinson rund ein Dutzend Buchpublikationen in diversen deutschen Übersetzungen gibt, von denen manche noch immer greifbar sind. – Auch bei dieser von Gunhild Kübler signierten Nachübersetzung soll also, entgegen bessern Wissens, der Anspruch übersetzerischer «Originalität» erhoben und mithin ausgeblendet werden, was andre, frühere Übersetzer zur Vermittlung und Erschliessung der Dickinsonschen Dichtung beigetragen haben.
Die Übersetzerin selbst charakterisiert ihr Eindeutschungsverfahren hochgemut als «eine zutiefst persönliche Lektüre» und setzt sich damit implizit von «bisherigen deutschen Dickinson-Übersetzern» ab. Wenn sie als ihre hauptsächliche Übersetzungshilfe die amerikanische Sekundärliteratur nennt, ist daraus wohl abzuleiten, dass es ihr vorab um das Verständnis und die Vermittlung der dichterischen Aussage geht, und nicht um die adäquate Nachbildung der dichterischen Form. Vordergründig erweist sich dies schon an der Textoberfläche, darin nämlich, dass die eigenwillige Grossschreibung, mit der Emily Dickinson die im Englischen übliche Kleinschreibung konterkariert, in der Übersetzung ohne Not aufgegeben wird. Da die deutsche Orthographie Gross- und Kleinschreibung nach bestimmten Regeln unterscheidet, stellt sich diesbezüglich für die Übersetzung naturgemäss ein Problem.
Dem wäre aber leicht abzuhelfen gewesen, sei’s durch exakte Nachbildung der originalen Typographie (was im Deutschen dann eben die Kleinschreibung mancher Substantive erfordert hätte), sei’s durch Hervorhebung entsprechender Wortformen – beispielsweise «Two», «Of», «Than» – in Versalien, also ZWEI, 
VON, ALS u.ä.m. Die zweite, gewiss aufwändigere Lösung würde (ebenso wie die ungewöhnliche Interpunktion) den verdeutschten Gedichten auch äusserlich eine gewisse Sperrigkeit und Extravaganz verleihn, was zu deren konzeptueller wie metaphorischer Kühnheit durchaus passen würde.
Leider lässt aber die «zutiefst subjektive Lektüre» der Nachübersetzerin so bedeutsame formale Qualitäten wie weibliche beziehungsweise männliche Versschlüsse oder poetische Besonderheiten wie den gewollt ungenauen Endreim, die Privilegierung von konsonantischen vor vokalischen Lautfolgen und die bevorzugte Verwendung kurzer, oft einsilbiger Wörter weitgehend ausser Acht. Dies war, muss man ergänzen, auch gar nicht ihre Ambition. Mehr und explizit geht es ihr, recht allgemein, darum, «möglichst vielen Lesern den Weg zu diesen singulären Originalen zu ebnen». Dabei tendiert sie allerdings dazu, gerade die Singularität – die provozierende Unbedarftheit, die poetische Dreistigkeit, den genialischen Eigensinn – Emily Dickinsons in der Übersetzung tatsächlich einzuebnen und über Gebühr bekömmlich zu machen, indem sie dunkle Laut- und Sinnballungen in plausibel wirkende Aussagen aufdröselt. Ein Exempel für Hunderte (Gedicht 581):

Of Course – I prayed –
And did God Care?
He cared as much as on the Air
A Bird – had stamped her foot –
And cried «Give Me› –
My Reason – Life –
I had not had – but for Yourself –
’Twere better Charity
To leave me in the Atom’s Tomb –
Merry, and nought, and gay, an numb –
Than this smart Misery.

Zu deutsch:

Gebetet hab ich –
Natürlich – und Gott?
Der hörte darauf als hätt auf Luft
Ein Vogel gestampft –
Und geschrien – «Gib»
Mein Grund – ein Leben –
Das ich nicht hatte – ausser für Dich –
Barmherziger wäre es gewesen –
Mich im Grab zerfallen zu lassen –
Heiter und leer, froh und matt –
Als diese raffinierte Not.

Mit Bezug auf das Gemeinte ist das Gedicht sicherlich korrekt übersetzt. Doch die Originalverse sind syntaktisch und lautlich völlig anders strukturiert als in der eingedeutschten Fassung. Die Ausdrucksweise ist fast durchweg, vor allem gegen das Ende hin, elliptisch – teilweise werden Substantive anstelle von Verben verwendet; Reime gibt es nur zwischen dem zweiten und dritten Vers (Care::Air) sowie im Schlussquartett, wo ein umfassender dreisilbiger Reim mit vager Assonanz (Charity::Misery) durch einen männlichen Paarreim (Tomb::numb) getrennt ist; der Rhythmus ist kurzatmig und einförmig, sein Staccato wird durch die auffallende Reihung einsilbig zu sprechender Wörter geprägt, bevor er – wie in einem langgezogenen Seufzer – mit dem mehrsilbigen «Misery» ausklingt.
Im deutschen Text gibt es weder klanglich noch metrisch übereinstimmende Reimentsprechungen. Kübler übersetzt hier, wie anderswo auch, formal gänzlich unbekümmert, sie verfährt ex­plikativ, will heissen, sie kommt dem Leser entgegen (gleichzeitig entmündigt sie ihn), indem sie erklärt, was Emily Dickinson mit subtiler Sprachgewalt nur einfach konstatiert.
«Gebetet hab ich – / Natürlich –» steht deutsch für «Of Course – I prayed –», wobei mit «Natürlich» eine unerwünschte 
Ambivalenz riskiert wird im Sinn von: «ich hab gebetet, ist doch ganz natürlich» gegenüber dem klaren Statement «Gewiss – Ich betete –». Und weiter unten: «Barmherziger wäre es gewesen – / Mich im Grab zerfallen zu lassen –» – das ist eine schwerfällige, rhythmisch ungelenke Umsetzung, die dem deutschen Leser voreilig vermittelt, was die Autorin hat sagen wollen, statt wiederzugeben, was sie, Wort für Wort, sagt.
Emily Dickinson imaginiert (bereits um 1863!) das lyrische Ich als Kern eines Atoms, von dem es sich wie von einer Grabkammer umschlossen fühlt. Von Zerfall keine Rede. Bei Werner von Koppenfels, der noch 2005 eine umfangreiche, thematisch gegliederte Dickinson-Auswahl vorgelegt hat, lautet dieselbe Stelle wie folgt: «Barmherziger wärs gewesen / Man liess mich in der Atome Gruft – / Heiter, und Nichts, und froh, und stumpf – / Als dieses stolze Elend.» Der erste Vers dieses Fragments kehrt in der Neuübersetzung fast unverändert wieder, auch sonst gibt es manche Übereinstimmungen, doch hat Koppenfels zumindest, wiewohl im unpassenden Plural, das Atom (aus «Atom’s Tomb») erhalten, während die Nachübersetzung lediglich das Bezugswort «Grab» beibehält. – Der letzte Vers ist hier unnötig belastet durch das anachronistische (weil zur Entstehungszeit des Gedichts noch nicht in der heutigen Bedeutung gebräuchliche) Adjektiv «raffinierte», das mit seinen vier Silben im Vergleich zum englischen «smart» einerseits zu gewichtig, anderseits zu unverbindlich auftritt. – Demgegenüber fehlt es demselben Vers bei Werner von Koppenfels an rhythmischer Stringenz, wiewohl er, in Übereinstimmung mit dem Original, weiblich auslautet. Vor allem jedoch bildet seine Übersetzung die spezifischen Reimqualitäten überzeugend nach (gewesen::Elend; Gruft::stumpf ), ohne dafür merkliche semantische Verluste in Kauf zu nehmen.
Um nicht bloss, wie in der Übersetzungskritik üblich, auf Mängel hinzuweisen, sondern auch eine Lösung anzubieten, schlage ich an dieser Stelle zusätzlich eine eigne Lesart für die vier Schlussverse vor: «Bessres Erbarmen wär’s / In des Atomes Gruft mich 
lassen – / Festlich, und nein, und froh, und null – / Statt so viel schi­ckes Ungemach.» Allerdings erhebe ich keinerlei Anspruch, dem deutschen Leser auf solche Weise den Weg zu Emily Dickinson zu ebnen. Mir ginge es eher darum, gerade auch die Fremdheit und Befremdlichkeit ihrer Gedichte nach Möglichkeit zu wahren.

V

Als weiteres Beispiel führe ich eines der letzten, auch der bekanntesten, schon oftmals ins Deutsche gebrachten und in zahlreichen Anthologien abgedruckten Dichtwerke von Emily Dickinson an:

To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.

Dieses Mikrogedicht ist – man kann hier als Leser nur staunen – von einer Vollkommenheit, die ihresgleichen sucht und die einen Vergleich vielleicht tatsächlich nur in Ein gleiches von Johann Wolfgang von Goethe findet. In der neuen Übersetzung bekommt man es wie folgt zu lesen:

Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen,
Und Träumerei.
Die Träumerei tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.

Der gedrängte, in sich aber uneinheitliche Textkörper wird vorab zusammengehalten durch die Wiederholung und wechselnde Anordnung einzelner Wörter sowie durch ein strenges Reimschema (aaabb), zu dem auch ein identischer Paarreim gehört (bee/bee). In der neuen Übersetzung wird dieses Schema zwar durchbrochen (aabba), aber doch überzeugend variiert. Anderseits geht der Binnenreim (make::takes) ebenso verloren wie der gekreuzte Parallelismus (sic!) in den ersten beiden Versen, wo «clover» und «bee» linear wiederholt, aber mit umgekehrtem Zahlwort versehen werden («a» und «one» > «one» und «a»).
Die Nachübersetzerin beschränkt sich demgegenüber auf «Klee und Bienen» im ersten Vers, lässt also die Zählung weg und setzt sogar dort, wo klar von einer Biene die Rede ist, eine Mehrzahlform ein. Auf die Wiederholung im zweiten Vers verzichtet sie ganz, stattdessen steht bei ihr umschreibend «Je eins von ihnen», wodurch der exakte Reim zu «Bienen» gegeben ist. Der vorletzte Vers kommt, abgesehen vom hinzugefügten «auch», in wörtlicher Übersetzung, während der schwierige Schluss (wörtlich: «wenn Bienen wenige sind») im Deutschen so schlicht wie elegant umformuliert wird zu: «Bei wenig Bienen.» Verlust und Gewinn halten sich in dieser Nachdichtung ungefähr die Waage. – Hier, zum Vergleich, die ältere Übersetzung von Lola Gruenthal:

Zu einer Prärie gehört ein Klee und eine Biene,
Ein Klee und eine Biene
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Sollten Bienen selten sein.

Vielleicht sollte man in diesem Fall aus den beiden – gleichermassen geglückten – Fassungen eine noch bessere Kreuzung herstellen; etwa so (von mir als Fremdtext kursiv gesetzt):

Für eine Wiese braucht es Klee und eine Biene,
Einmal Klee und eine Biene,
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.

Werner von Koppenfels schlägt die folgende, im Schlussteil eher umständliche Lösung vor:

Für eine Prairie braucht man eine Biene, einen Klee,
Eine Biene, einen Klee,
Und Träumerei.
Wenn Bienen knapp sind, tut es auch
Träumerei allein.

Eine interessante, ebenfalls neuere deutsche Lesart dieses Gedichts bietet Wolfgang Schlenker:

Für eine Lichtung braucht’s Klee und eine Biene,
Ein Kleeblatt und Bienengesumm,
Und Träumerei.
Die Träumerei allein tut’s auch,
Falls Bienen rar.

VI

Zwei weitere, über den Anlass und das Beispiel hinausführende Fragen seien an dieser Stelle eingerückt: Wer hätte, wenn ausschliesslich kompilativ gearbeitet würde, als Autor der Übersetzung zu gelten? Wenn also die Leistung darauf beschränkt bliebe, mit Versatzstücken aus bereits vorliegenden Textfassungen zu operieren, ohne dass irgendein Element verändert, ausgelassen, hinzugefügt wird? Als «originell» oder «auktorial» könnte mithin, aus übersetzerischer Sicht, allein die kompilatorische Geste als solche gelten – das Arrangement.
Und die andre Frage: Auch wenn das kompilatorische Verfahren im vorliegenden Fall anwendbar und unzweifelhaft produktiv ist, würde es sich in andern Fällen – je nach der poetologischen Veranlagung der Übersetzung – als obsolet erweisen. Dies gilt sicherlich für all jene Nachdichtungen, die sich von den fremdsprachigen Vorlagen bewusst abheben, die nicht philologisch eingehen auf deren Textgestalt, die vielmehr ausgehen davon, um sie in der Zielsprache als Variationen auszuarbeiten und fortzu- entwickeln. Solches gilt beispielshalber für die Übertragungen 
von Oskar Pastior (Baudelaire,  Chlebnikow, Gertrude Stein u.a.m.) oder Franz Josef Czernin (Shakespeare), welche mit bereits vorliegenden Übersetzungen naturgemäss nichts zu schaffen haben.
Zudem gibt es Texte, die sich der philologisch adäquaten Übertragung prinzipiell verschliessen und die deshalb gemeinhin als «unübersetzbar» gelten. Derartige Vorlagen – man denke an die radikal sprachbezogne Dichtung des Dadaismus, Futurismus, Surrealismus, Konstruktivismus – können nur nachgebaut, nicht übertragen werden; nicht der Text, der dasteht, wird in die Zielsprache geholt, sondern das Verfahren, das zu seiner Herstellung in der Ursprungssprache angewandt wurde und das dort denn auch spezifische, bestenfalls analog, niemals direkt übertragbare Effekte klanglicher oder typographischer Art zur Folge hat. Mit dem in der Zielsprache verfügbaren lexikalischen Baumaterial wird nach dem originalen Konstruktionsplan solcher Texte eine eigenständige Entsprechung gefertigt, die mit der Vorlage lediglich durch ihre Entstehung und Machart, nicht jedoch in ihrer Aussage oder Bedeutung übereinstimmt. Ich selbst habe dieses Übertragungsprinzip für meine Nachdichtungen aus Werken von Stanley Chapman, Michel Leiris, aber auch, zumindest fallweise, von Edmond Jabès oder Marina Zwetajewa adaptiert.
Im Hinblick auf die Technik des Nachübersetzens spielt dieser Spezialfall kaum eine Rolle, weil ohnehin jede anderssprachige Neufassung derartiger Texte als Erstübersetzung, wenn nicht überhaupt als Original zu gelten hat. Die Nutzung vorhandner Übersetzungen für Nachübersetzungen bietet sich vorab bei diskursiven und narrativen Texten an; die schon zitierten und nachfolgend aufgeführten Beispieltexte von Emily Dickinson machen aber deutlich, dass auch die Lyrikübersetzung davon profitieren könnte, dies allerdings nur dann, wenn ihre poetologischen Prämissen – wie im hier gegebenen Fall – kompatibel sind.

VIII

Und, um zu schliessen, noch ein Bienengedicht in der Hanserschen Neuübersetzung: 

Ruhm ist wie Bienen
Kann singen –
Kann stechen –
Ah ja, auch fliegen.

Dazu das Original:

Fame is a bee.
It has a song –
It has a sting –
Ah, too, it has a wing.

Auch in diesem Fall besteht die Schwierigkeit der Übersetzung in der komplexen Einfachheit des Urtexts. Formbildend sind die starken Reimbindungen im Verein mit einem exakt symmetrisch platzierten Parallelismus («It has … / It has …»), der auf metaphorischer Ebene – Ruhm / Biene – seine Entsprechung hat.
Die Nachübersetzerin tut sich sichtlich schwer, dieses strenge Konzept ins Deutsche zu transferieren. Zwar liefert sie auch hier eine auf den ersten Blick korrekte Entsprechung, doch wieder verspielt sie die eigentliche poetische Substanz der Vorlage. Schon mit dem ersten Vers wird die kompositorische Symmetrizität aufgebrochen dadurch, dass sie den Ruhm (Einzahl) einer Mehrzahl von Bienen gegenüberstellt, wobei sie durch das eingeschobne «wie» die starke Metaphernbildung zu einem blossen Vergleich abschwächt. Bedingt durch die fragwürdige Pluralbildung ergeben sich in der Folge drei zweisilbige Verbformen (singen / stechen / fliegen) und damit drei weibliche Vers-Enden, die zu den im Original akzentuierten einsilbigen Reimwörtern (song / sting / wing) keine adäquate Entsprechung bilden.
Wieder gerät die Nachübersetzung zu einer Art Nacherzählung, die Emily Dickinsons lapidare Fügungen aufweicht und gefällig macht. Die Umformung des Hauptworts «song» zum Tätigkeitswort «singen» impliziert eine falsche Vorstellung, denn zu «singen» pflegen weder Ruhm noch Bienen. – Doch auch bei Werner von Koppenfels, dessen Übersetzung in der Küblerschen Fassung fast wörtlich wiederkehrt, wird gesungen wie gestochen:

Ruhm ist eine Biene.
Kann singen –
Kann stechen –
Ach ja, kann auch fliegen.

Das englische Wort «song» bezeichnet hier jedoch keineswegs ein Lied, also etwas (in Worten!) zu Singendes oder Gesungenes, sondern – mit speziellem Bezug auf Vögel und Insekten – eine nicht näher bestimmte melodiöse Kundgabe, ein melodisches Geräusch («some musical call»). Dafür müsste auch im Deutschen ein Begriff gefunden werden, der sich mit «Ruhm» und «Biene» gleichermassen verbinden liesse. Eine diskutable Kompromisslösung findet sich bei Gertrud Liepe:

Ruhm ist eine Biene.
Er hat das Singen –
Er hat den Stachel –
Ah, dazu, hat er Schwingen.

Insgesamt bringt die neue Nachübersetzung der Gedichte Emily Dickinsons keinen merklichen poetischen Zugewinn. Das Bestreben, dem deutschsprachigen Leser hilfreich zu sein, ihm den Weg zum Verständnis der Texte zu ebnen und zu verkürzen, führt im übersetzten Text notwendigerweise zu formalen Entschärfungen, Glättungen, Begradigungen, die die Lektüre zwar erleichtern, gerade dadurch aber die eigensinnige, oft geradezu rücksichtslose Sprechweise der Dichterin verunklären und verharmlosen. Doch angesichts der derzeitigen Konjunktur wird es ja möglicherweise schon in Bälde eine weitere Nachübersetzung geben. Wozu diese jüngsten Eindeutschungen reichlich Anlass, aber auch wertvolle Beihilfe böten.

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00