Nota bene

Von Cyprian Kamil Norwid (1821–1883) ist gegenwärtig lediglich ein schmales Bändchen ausgewählter Gedichte in deutscher Übersetzung greifbar (Das ist Menschensache!…, Thelem Verlag, Dresden 2003); antiquarisch findet sich hin und wieder der vergriffene Novellenband Das Geheimnis des Lord Singelworth, der 1989 als Nr. 704 in der Leipziger Insel-Bücherei als Nachübersetzung einer früheren Ausgabe erschienen ist. Dem steht in polnischer Sprache, ebenfalls vergriffen, eine exzellent edierte Werkausgabe in zwölf Bänden gegenüber, die auf rund 6000 Druckseiten Norwids lyrisches, dramatisches und erzählerisches Schaffen sowie seine Briefe und Zeichnungen erstmals gesamthaft zugänglich macht (Pisma wszystkie, I–XI, Warschau 1971–1976; daraus eine fünfbändige Auswahl Pisma wybrane, Warschau 1980).
Im Hinblick auf Norwids Werk von «Schaffen» zu sprechen, hat ungeachtet des anachronistischen Begriffs, auch heute seine Richtigkeit. Denn für diesen Autor hatte das Schaffen – entgegen damaligem Kunstverständnis – stets Vorrang vor dem Werk. Was für ihn höher zählte als das literarisch Gefertigte, war das Fertigen des Werks, die poiesis. Immer wieder hat Norwid (selbst in Gedichten) den Akt des Schreibens als handwerkliche Schwerarbeit am Text belobigt, wenn nicht geradezu dekretiert. Mit Verweis auf Vergil plädierte er, im Gegenzug zum Geniekult seiner Zeit, für eine vorab technisch determinierte Dichtkunst, bei der das bewusste Machen, das heisst auch: das Bewusstmachen der Erarbeitung, der Produktion des Gedichts im Vordergrund steht, und nicht die «Inspiration» aus mehr oder minder diffuser Quelle. Dem «heiligen Feuer» zog Norwid nach eigenem Bekunden eine Handvoll Streichhölzer vor, mit denen er immer wieder neue, eigens gelegte Lunten zu entfachen hoffte. Unter diesem Gesichtspunkt kann ein Werk nie als vollendet oder gar als vollkommen gelten; es wird vielmehr zur Passage, zu einer variablen Scharnierstelle zwischen dem Prozess der Entstehung und dem Prozess der Rezeption.
Norwids Dichtung und Dichtungstheorie – nicht zuletzt seine Aufwertung der Lektüre als Garant für die stetige Entstehung und die immer wieder neue Sinngebung des dichterischen Texts – gehören zu den Urschriften der nachmaligen klassischen Moderne, sind jedoch als solche, ausserhalb Polens, bis heute noch kaum erkannt worden.
Dass für Norwid gerade die Frage nach der Rezeption und damit auch nach der Interpretation künstlerischer Literatur so zentral geworden ist, hat vorab mit seiner eignen problematischen Zeitgenossenschaft zu tun, mit seiner Unfähigkeit, dann auch mit 
seinem Unwillen, den damaligen literarischen Trends und Erwartungen zu entsprechen. Ohnehin war Norwid als polnischer Migrant in Deutschland, Belgien, Italien, Amerika und zuletzt, während mehrerer Jahrzehnte, in Paris eine marginale Figur; der Grossteil seines Werks blieb unpubliziert – ein einziges Gedichtbuch erschien zu seinen Lebzeiten, 1863, auf Polnisch in Leipzig, blieb aber weithin unbeachtet.
Statt sich literaturbetrieblichen Erfordernissen anzupassen und nach Erfolg zu streben, wählte Norwid bewusst die Rolle des «dunklen» Aussenseiters, der immer zu früh vor Ort ist, um wahrgenommen und verstanden zu werden. In eben dieser Rolle arbeitete er auf einsamem Posten und unter ärmlichsten Bedingungen konsequent an seinem Nachruhm, der ihn «in 100 Jahren» einholen und in einer «postumen Apotheose» zum Zeitgenossen seiner Enkel machen sollte. Voraussetzung für solch «verspätete Rede» ist, dass sie bei ihrer Entstehung «aufhört beredt zu sein», dass sie also darauf verzichtet, sofort verstanden zu werden, etwas bewirken, jemandem gefallen zu wollen. Und umgekehrt war Norwid überzeugt davon, dass Erfolg zu Lebzeiten mit künftigem Nachruhm unvereinbar sei: «Was heute den Gipfel darstellt, ist morgen das Niveau der Scheisse …» Und nochmals umgekehrt: Wenn er heute unverstanden bleibe, verlacht und verworfen werde, so sei dies, meinte er, die verlässliche Prämisse für seine Anerkennung durch spätere Autoren- und Lesergenerationen.
Konsequent hielt Norwid denn auch an seinem Status als elitärer, hermetischer, einsamer, ja tragischer Autor fest und gab sich als «Barbar», als «Skythe» unter schöngeistigen, aber oberflächlichen Bildungsbürgern. Entsprechend instrumentierte er seine Dichtersprache als «Fremdsprache», indem er sie mit Jargonismen, Archaismen, Dialektismen, Neologismen untermischte; indem er Grammatik und Syntax durch forciertes Biegen und Brechen so sehr verfremdete, dass – und bis – so etwas wie eine Harmonie der Fehler, Regelverstösse, Widersprüche sich einstellte; und schliesslich: indem er die meisten seiner Gedichte (dar
unter zahlreiche Zyklen) als mehrstimmige lyrische Minidramen mit ständig wechselnder Redeperspektive anlegte und sie überdies mit einer Fülle von typographischen Sonderzeichen und Hervorhebungen auf ein durchweg ungewöhnliches Schriftbild festlegte – Verfahrensweisen, die erst lange nach seinem Tod konstitutiv werden sollten für manche Dichter der europäischen Moderne.
Norwid hat sich im Unterschied zur Mehrheit seiner Zeitgenossen nie gescheut, «die Weisse des Papiers zu beschmutzen und dessen Ladenduft und Frische zu beeinträchtigen» durch sein hochartistisches Radebrechen, mit dem er die ausgeleierte dichterische Rede romantischer Provenienz konterkarierte. «Erst wenn man alles ausdrücken kann», heisst es in einer seiner Künstlernovellen, «ist man frei, und ohne diese Freiheit kann Kunst keine wesentliche Bewegung und kein Leben haben, sondern sie wiederkäut und drischt bestenfalls Vorgefundenes.»
Alles – wie auch immer – ausdrücken zu wollen (mithin das, was Francis Ponge späterhin als «Ausdruckswut» bezeichnet hat), ist der Grundimpuls für eine Poetik des Diversen, die keinerlei thematische, stilistische oder lexikalische Tabus mehr kennt; die vielmehr darauf angelegt ist, das, was nach allgemeinem Dafürhalten nicht zusammengehört und nicht zusammenpasst, zu synthetisieren: Volksmund und hoher Stil, Alltagsmotive und biblische Gleichnisse, Ironie und Erhabenheit, wissenschaftliche Begrifflichkeit und politische Rhetorik, Jargonismen und Lyrismen u.a.m.
Norwid selbst hat für dieses harte Zusammenschneiden disparater Elemente eine ungewöhnliche Realmetapher entwickelt. Eingebettet in die seltsame Erzählung vom Geheimnis des Lord Singelworth (1883) findet sich eine knappe Beschreibung des Canal Grande in Venedig, die als szenische Übertragung beziehungsweise Visualisierung seiner Poetik aufgefasst werden kann: «… kleine Karnevalsboote, goldüberzogene Schiffe aus allen Zeitaltern, wappenbunte Galeeren, schwarze Gondeln und mannigfache sonstige Schiffstypen stiessen mit ihren Flanken derart nahe 
aneinander, dass man trockenen Fusses die ganze Breite des Kanals hin und zurück hätte überqueren können.» – Hier werden zeitlich und funktional ganz unterschiedliche Elemente («Schiffe aus allen Zeitaltern») in enge räumliche Nachbarschaft versetzt («stiessen mir ihren Flanken … aneinander»), so dass sie sich zu einer scheinbar geschlossnen Fläche fügen, die als Brücke genutzt werden könnte. Im Gegensatz zum modernistischen Gesamtkunstwerk, das Ähnliches mit Ähnlichem zu einem harmonischen Ganzen synthetisiert, bleiben die Seite an Seite liegenden Norwidschen Schiffe voneinander getrennt; sie bilden eine aus ungleichen und unverbundenen Teilstücken locker gefügte, dabei höchst spannungsreiche Ganzheit.
Die Technik von Schnitt und Montage, die Ästhetik des Schocks und der Verfremdung, die nachmals für die Kunstrevolution des frühen 20. Jahrhunderts bestimmend geworden sind, kündigen sich bei Cyprian Kamil Norwid – im lyrischen wie im erzählerischen Werk – bereits unverkennbar an, und es erstaunt nicht, dass die eigentliche Wirkungsgeschichte dieses Werks eben zu jener Zeit des «grossen Bruchs», von dem alle Künste gleichermassen betroffen waren, mit markanter Verspätung begann. Trotz seiner weltliterarischen und transepochalen Vernetzung ist Norwid aber ein singuläres polnisches Phänomen geblieben. In seiner Heimat ist er zum Vorbild mehrerer Dichtergenerationen geworden, im übrigen Europa – selbst im Land seines langjährigen Exils – hat er bis heute nicht Fuss fassen können. An den Übersetzern ist es, seine Stimme endlich hörbar, seine Statur endlich sichtbar zu machen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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