I
Arthur Honeggers stärkstes und auch populärstes Orchesterstück ist die 1923 entstandene Kompositon «Pacific 231», die mit einfachen, aber raffiniert eingesetzten Mitteln die Fahrt beziehungsweise die Fahrgeräusche eines berühmten amerikanischen Expressgüterzugs wiedergibt.
Wiedergibt?
Obwohl experimentell angelegt, bleibt das Stück der programmmusikalischen Tradition des 19. Jahrhunderts verhaftet, nur dass hier nicht ein gestreckter Galopp, ein mächtiges Gewitter oder eine romantische Schlittenfahrt «wiedergegeben» wird, sondern – vielleicht erstmals in der Musikgeschichte – die Geräuschregister einer schweren Lokomotive, die mit ihren zahlreichen Güterwagen langsam in Fahrt kommt, hohe Geschwindigkeit gewinnt, dann wieder abbremst, nochmals beschleunigt, schliesslich im Zielbahnhof anhält. Wiedergegeben werden das Stampfen, das Prusten, das Pfeifen der Lokomotive, das Rattern und Rütteln der Wagen, das Quietschen der Schienen …
Die musikalische Wiedergabe dieser Geräusche ist durchaus mit einer literarischen Übersetzung vergleichbar. Statt von einer Sprache in die andre wird von einem Geräuschregister in ein Klangregister übertragen, wobei manche Charakteristika des Originaltons verloren gehn, aber auch – in musikalischer Hinsicht – solche Charakteristika gewonnen werden.
Interessant, allerdings, ist Honeggers Komposition nicht als Wiedergabe, sondern als Umsetzung von Maschinenlärm in komponierte Musik. Nur ist diese Musik als solche kaum zu hören, da die durch sie wiedergegebnen oder nachgeahmten Geräusche die Aufmerksamkeit allzu stark beanspruchen – man hört tatsächlich mehr auf den Gegenstand der Nachahmung hin als auf die Nachahmung selbst, und dies wäre hier eben die Originalmusik.
Mit andern Worten. Die Um- und Übersetzung erbringt in diesem Fall, nicht anders als bei zwischensprachlichen Übertragungen, zugleich eine Wiedergabe und ein Original.
II
Eine aufschlussreiche Hörerfahrung stellte sich vor kurzem bei mir ein, als im Radio eine historische Tonaufnahme des originalen «Pacific 231» aus den späten 1920er Jahren gesendet wurde. Ein O-Ton-Pionier, dessen Name mir entfallen ist, hatte damals in einer ansteigenden Geleisekurve während mehrerer Minuten die An- und Vorbeifahrt des endlos langen Zugs als Lauf- und Maschinengeräusch aufgenommen.
Das mechanische Klicken der Schienenstösse, das stählerne Knirschen Hunderter von Rädern, das Stampfen, Pfeifen und Dampfablassen der Zugmaschine gewann beim Zuhören allmählich und unabweisbar rhythmische Qualität, und zuletzt hatte ich den Eindruck, nicht in eine reale Geräuschkulisse hineinzuhören, sondern der Uraufführung eines kleinen musikalischen Meisterwerks beizuwohnen.
Frappante Gegenläufigkeit.
Während Honeggers nachahmende Komposition die Aufmerksamkeit auf die nachgeahmten Originalgeräusche lenkt, lassen diese bei direkter Wahrnehmung umso stärker ihr musikalisches Potential hervortreten.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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