Posa

Wer Gedankenfreiheit fordert, fordert die freie Verbreitung von Gedanken in Form von Rede oder Text, fordert also eher die Freiheit des Worts oder auch bloss die Freiheit persönlicher Meinungsäusserung. Denn frei sind Gedanken allemal, solang sie nicht geäussert werden.
Als Kind, ich erinnere mich, empfand ich’s als eine ungeheuerliche Merkwürdigkeit, dass Gedanken wie übrigens auch Träume von aussen nicht zu hören, nicht zu sehn, nicht zu spüren sind. Und ich stellte mir vor, wünschte mir sogar, dass Gedanken (die Gedanken meiner Eltern, der Schwester, des Lehrers, der Schulfreunde) wie Körpergeräusche – als ein leises Knacken, ein lautes Schmatzen – wahrnehmbar wären. In allen Fürzen, heisst es an einer Stelle bei Celan, sei die Welt gerecht; aber in allen Gedanken ist sie’s gerade nicht.
Dass Gedanken so unfassbar und doch so bestimmend sind, ist der eigentliche Grund dafür, dass man schon immer die Folter eingesetzt hat, um sie nach aussen zu wenden, sie durch erpress
te Übersetzung in Worten fassbar zu machen. Anderseits lässt sich Schweigen durch keinerlei Folter erzwingen; das vermöchte nur der Tod.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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