Reiselektüre

Ein erstes und einziges Mal hat sich Jacques Derrida im Frühjahr 1990 für zehn Tage in Moskau aufgehalten, wo er einen magistralen (bis heute ungedruckten) Vortrag hielt und sich in einem Seminar den Fragen junger russischer Philosophen stellte, die ihn – zu seinem Erstaunen und seiner Genugtuung – darauf aufmerksam machten, dass der damalige Umbau der Sowjetunion, die sogenannte Perestrojka, exakt dem von ihm entwickelten Konzept der Dekonstruktion entspreche. Dass die Sowjetunion anderthalb Jahre danach definitiv auseinanderbrechen würde, hat sich damals noch niemand vorstellen können, auch nicht Derrida, für den die Perestrojka, nicht anders als die Dekonstruktion, ohnehin «im Halbdunkel» lag. Immerhin konnte der postmoderne Meisterdenker, für den doch feststand, dass es «ausserhalb des Texts nichts gibt», vor seinen russischen Zuhörern ein bemerkenswertes Zugeständnis und damit einen Schritt in die politische Praxis machen:

«Dekonstruktion ist im Gange, ob Sie das wollen oder nicht. Sie ist in vollem Gang: Was heute in der Sowjetunion vorgeht, ist eine Art von Dekonstruktion im Handeln

Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der UdSSR in die USA verfasste Derrida für seine Kollegen von der Critical Theory Group (UC Irvine) einen Reise- und Kongressbericht, der dann auch sehr bald in englischer Sprache gedruckt vorlag. Anhand dieses übersetzten, von Derrida aber als Original deklarierten Texts wurde bereits 1993 eine russische Fassung erstellt und in Buchform vorgelegt, und mit bemerkenswerter Verspätung erschien 2005 auch eine deutschsprachige Ausgabe. Derridas Bericht zeichnet sich vorab dadurch aus, dass er nichts wirklich Berichtenswertes zu bieten, aber viel über die Unmöglichkeit aller Berichterstattung zu sagen hat. Es gibt in dem rund hundert Seiten umfassenden Text keinen einzigen Satz, der nicht auch hätte geschrieben werden können, ohne dass der Autor vor Ort gewesen wäre – keinerlei Realien aus der politischen, intellektuellen oder alltagsweltlichen Szene Moskaus rücken ins Bild, es werden keine persönlichen Wahrnehmungen oder Erfahrungen rapportiert; stattdessen beugt sich Derrida nach seiner Rückkehr – mit dem Beatlessong Back from Moscow, in the USSR im Ohr – über ein paar frühere Reiseberichte (namentlich jene von Benjamin, Gide und Etiemble), die er gerade in Griffweite hat und die er nun kritisch nachliest, weil es ihm nach eignem Bekunden leichter fällt, aus fremden Texten zu «zitieren» als von eignen Erlebnissen zu «erzählen», ganz abgesehen davon, dass er Zitate allemal für «interessanter» hält als irgendwelche wahre Geschichten.
Tatsächlich scheint Derrida eher als Leser denn als Reisender in der damaligen sowjetischen Hauptstadt geweilt zu haben, und was er darüber schreibt, ist eine einzige wortreiche Deklaration dazu, dass man sehr wohl über Gelesenes, nicht aber über Erlebtes adäquat schreiben kann und schreiben sollte. Das von Sigmund Freud ingeniös gedeutete «Fort-da!» des Kleinkinds steht auch für die Ambivalenz der Schreibgeste, die ihren extratextuellen Gegenstand eben dadurch zum Verschwinden bringt, dass sie ihn in Worte zu fassen versucht. An dieser Ambivalenz, meint Derrida, sei Walter Benjamins Projekt eines Buchs (und nicht bloss eines Tagebuchs) über Moskau gescheitert; denn:

«Das Schreiben, die Schrift muss verschwinden, um die Sache selbst (‹Moskau›) sprechen zu lassen, und zwar in einer ‹Darstellung›, die gleichsam eine Selbstdarstellung der Sache selbst, des Gegenstands an sich und durch sich ist.»

Wo sich die Schrift – als Text – jedoch behauptet und Bericht wird über etwas, das nicht Schrift, nicht Text ist, verliert sie ihre evokative Kraft und verfehlt notwendigerweise ihren Gegenstand:

«Die Sprache der Mitteilung steht für Verfall, ja Zerstörung der eigentlichen Sprache, des Ausdrucks, und dieser zerstörerische Verfall der eigentlichen Sprache ist nichts anderes als der ‹Sündenfall›…»

Dieser unentrinnbaren funktionalen Ambivalenz der Sprache vermag nach Derrida am ehesten «dekonstruktive Lektüre (oder dekonstruktives Schreiben)» – eins wie’s andre – gerecht zu werden, die beide die «Erfahrung des Unmöglichen» vergegenwärtigen, eine Erfahrung gelingenden Scheiterns. Derrida thematisiert diese Erfahrung nicht nur, er realisiert sie durch sein Schreiben, seine Art zu schreiben, die einerseits von einer pathetischen Rhetorik des Aufschubs bestimmt ist, anderseits von den arationalen Zufallsverwandtschaften klangähnlicher Namen und Begriffe. Der ausufernde Stil des Derrida’schen Reisetraktats wirkt jeder diskursiven Linearität und Zielrichtung entgegen, der Text scheint sich rein assoziativ aufzubauen, kollabiert aber immer wieder an dem Punkt, wo der Autor seine Schreibbewegung abrupt unterbricht, um zu erklären, dass er sie an andrer Stelle, in anderm Kontext, zu einem spätern Zeitpunkt «vielleicht» wieder aufnehmen werde – so wird ein gutes Dutzend Mal die ultimative «Mitteilung» aufgeschoben und letztlich dann auch offengehalten, und der Text endet sinnigerweise nicht mit einem Fazit, sondern mit einer langen Liste jener Themen, über die Derrida eigentlich hätte schreiben wollen, über die er «jetzt» nicht geschrieben hat, vielleicht aber «später» einmal noch schreiben wird.
Dem Mitteilungscharakter diskursiver Rede laufen auch Derridas zahlreiche Wortspiele zuwider, die den Bedeutungsaufbau im Text stets von neuem stören, weil sie nicht auf der semantischen, sondern ausschliesslich auf der lautlichen Ebene – durch zufällige Assonanz – aufeinander bezogen sind. Wenn Derrida, zurück in den USA, nach der englischen Übersetzung von Benjamins Moskauer Tagebuch greift, das zuerst in der Zeitschrift «October» erschienen ist, erinnert ihn dies daran, dass er – so what? – eben noch für zehn Tage im Moskauer Hotel «Oktjabr» (Oktober) untergebracht war, und der Gedanke an den Organisator seiner Reise («Travel Agency») verbindet sich für ihn unversehens mit der klangähnlichen französischen Vokabel «travail» (für Arbeit, auch: Geburtswehen), was wiederum auf das Scheitern seiner Schreib- beziehungsweise Gebärarbeit am Text verweist, der «womöglich auf immer ohne Fortsetzung, folgenlos oder ‹kinderlos› bleibt», so wie – es folgt noch ein Assoziationsschwenk – Benjamins Buch über Moskau ungeschrieben und seine damalige Beziehung zu Asja Lazis kinderlos geblieben ist.
«Usfetera, usfetera…» – mit dieser Formel lässt Derrida seinen Traktat enden, ohne ihn abzuschliessen: Die Reise geht weiter, die Schreibbewegung dauert fort, und solang das Schreiben den Tod aufschiebt, kann auch das Leben weitergehn. Vollendet ist das Werk erst dann, so wird Derrida es sich gedacht haben, wenn der Autor es losgelassen, es unvollendet hinterlassen hat.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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