Explosionismus und damit die Tendenz zu extremer Beschleunigung und Verdichtung bestimmt seit den späten 1960er Jahren zunehmend das Fühlen, das Handeln. «Wir wollen alles sofort!» Die Parole von damals wirkt nach. Man will alles sofort haben, wissen, um es dann abzuhaken, fallen zu lassen. Kontinuität, Tradition, Insistenz sind verpönt, werden aufgeben zu Gunsten von «schnellen Erfolgen», «schnellem Geld». Langsamkeit gilt als eine Form von Invalidität; Rekorde und Ratings orientieren sich an punktuellen Höchstleistungen; langwierige Arbeiten oder Entscheidungen werden übertrumpft durch Würfe, durch Sprünge «aus dem Stand», durch Schüsse «aus der Hüfte». Statt eines Kriegs hin und wieder gibt es Attentate permanent. Der Schuss, der Sprengsatz, die Bombe, aber auch der jeweils neuste Hit, der Top oder der Flop des Tags, der Woche, der Saison, Hesse oder Seneca für Minuten, alles, was Spitze, Super, Mega ist – Idee und Ausführung und Wirkung fallen hier und jetzt ineins. Spass will man immer – und immer sofort – haben, man beansprucht das als Menschenrecht. Fresssucht, Chatsucht, Sexsucht, Spielsucht, Horrorsucht. Das Süchtigsein als Sucht. Dagegen gelten Zurückhaltung und Nachdenklichkeit nichts, Fasten, Zölibat, Askese sind Angriffe auf angeblich normale Bedürfnisse, widersprechen der menschlichen Würde. Zur menschlichen Würde gehört heute, dass man «ganz Mensch» sein darf, sich gehenlassen, auch mal explodieren, mal ausflippen kann. Alles ganz schnell und immer wieder und immer öfter. Aber dann doch wieder nicht wirklich.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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